pse_089.001 oft von Enthumanisierung, von Entpersönlichung in der Dichtung, pse_089.002 auch in der Lyrik. Jede Dichtung sei ein gänzlich für sich pse_089.003 abgeschlossenes Gebilde, ja ein Ding, das gar keinen Bezug pse_089.004 mehr zum Menschen, ja zum Menschlichen habe.
pse_089.005 Aber dem halten wir entgegen: Jede Dichtung ist Menschenwerk. pse_089.006 Und daran muß sich die Frage anschließen: ist das auch pse_089.007 für das Dasein und für die künstlerische Beschaffenheit einer pse_089.008 Dichtung von Bedeutung? Zunächst schon eine Tatsache: pse_089.009 jedes Menschenwerk unterscheidet sich von einem Gebilde pse_089.010 der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt. pse_089.011 Und dieses menschliche Schaffen und Wollen prägt pse_089.012 auch dem fertigen Werk bestimmte Züge auf. Das gilt für pse_089.013 alle menschlichen Werke. Auch einem wissenschaftlichen pse_089.014 Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers pse_089.015 an. Man vergleiche die Schriften von Spinoza, Kant pse_089.016 und Fichte. Man weiß auch, daß gestiftete Religionen die pse_089.017 Züge ihres Gründers aufweisen. Bis zu gewöhnlichen Geräten pse_089.018 kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu pse_089.019 entdecken. Aber: bei all diesen Werken könnte man, wenn pse_089.020 man ihren Sinn herausstellen will, von diesen menschlichen pse_089.021 Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht pse_089.022 davon berührt. Nicht so bei der Dichtung, wohl überhaupt pse_089.023 bei der Kunst. Die ästhetischen Gebilde greifen immer tief pse_089.024 ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung pse_089.025 einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.
pse_089.026 Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher pse_089.027 begründet werden. Es ist durchaus verständlich, wenn pse_089.028 strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem pse_089.029 Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte pse_089.030 darstelle: etwa die chemischen Formeln, die Versuche schon pse_089.031 des Leibniz und der modernen Logistiker. Sie wollen von der pse_089.032 Sprache loskommen. Sie behaupten, wegen der Unzulänglichkeiten pse_089.033 der Sprache. Was kann man schon mit "Vergißmeinnicht", pse_089.034 "Stiefmütterchen" als wissenschaftlichem Ausdruck pse_089.035 anfangen! Man greift in der Botanik zum lateinischen Fachausdruck. pse_089.036 Der sei international und zugleich für uns heutige pse_089.037 nicht mehr mit störenden Gefühlstönen belastet. So die strenge pse_089.038 Wissenschaft. Und sie hat recht. Nicht aber wegen der Unzulänglichkeit
pse_089.001 oft von Enthumanisierung, von Entpersönlichung in der Dichtung, pse_089.002 auch in der Lyrik. Jede Dichtung sei ein gänzlich für sich pse_089.003 abgeschlossenes Gebilde, ja ein Ding, das gar keinen Bezug pse_089.004 mehr zum Menschen, ja zum Menschlichen habe.
pse_089.005 Aber dem halten wir entgegen: Jede Dichtung ist Menschenwerk. pse_089.006 Und daran muß sich die Frage anschließen: ist das auch pse_089.007 für das Dasein und für die künstlerische Beschaffenheit einer pse_089.008 Dichtung von Bedeutung? Zunächst schon eine Tatsache: pse_089.009 jedes Menschenwerk unterscheidet sich von einem Gebilde pse_089.010 der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt. pse_089.011 Und dieses menschliche Schaffen und Wollen prägt pse_089.012 auch dem fertigen Werk bestimmte Züge auf. Das gilt für pse_089.013 alle menschlichen Werke. Auch einem wissenschaftlichen pse_089.014 Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers pse_089.015 an. Man vergleiche die Schriften von Spinoza, Kant pse_089.016 und Fichte. Man weiß auch, daß gestiftete Religionen die pse_089.017 Züge ihres Gründers aufweisen. Bis zu gewöhnlichen Geräten pse_089.018 kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu pse_089.019 entdecken. Aber: bei all diesen Werken könnte man, wenn pse_089.020 man ihren Sinn herausstellen will, von diesen menschlichen pse_089.021 Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht pse_089.022 davon berührt. Nicht so bei der Dichtung, wohl überhaupt pse_089.023 bei der Kunst. Die ästhetischen Gebilde greifen immer tief pse_089.024 ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung pse_089.025 einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.
pse_089.026 Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher pse_089.027 begründet werden. Es ist durchaus verständlich, wenn pse_089.028 strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem pse_089.029 Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte pse_089.030 darstelle: etwa die chemischen Formeln, die Versuche schon pse_089.031 des Leibniz und der modernen Logistiker. Sie wollen von der pse_089.032 Sprache loskommen. Sie behaupten, wegen der Unzulänglichkeiten pse_089.033 der Sprache. Was kann man schon mit »Vergißmeinnicht«, pse_089.034 »Stiefmütterchen« als wissenschaftlichem Ausdruck pse_089.035 anfangen! Man greift in der Botanik zum lateinischen Fachausdruck. pse_089.036 Der sei international und zugleich für uns heutige pse_089.037 nicht mehr mit störenden Gefühlstönen belastet. So die strenge pse_089.038 Wissenschaft. Und sie hat recht. Nicht aber wegen der Unzulänglichkeit
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Aber dem halten wir entgegen: Jede Dichtung ist Menschenwerk. pse_089.006
Und daran muß sich die Frage anschließen: ist das auch pse_089.007
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jedes Menschenwerk unterscheidet sich von einem Gebilde pse_089.010
der Natur dadurch, daß es einer menschlichen Leistung entspringt. pse_089.011
Und dieses menschliche Schaffen und Wollen prägt pse_089.012
auch dem fertigen Werk bestimmte Züge auf. Das gilt für pse_089.013
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Werk spürt man in seiner Art die menschliche Art des Verfassers pse_089.015
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und Fichte. Man weiß auch, daß gestiftete Religionen die pse_089.017
Züge ihres Gründers aufweisen. Bis zu gewöhnlichen Geräten pse_089.018
kann man gehen, um auch da Merkmale des Verfertigers zu pse_089.019
entdecken. Aber: bei all diesen Werken könnte man, wenn pse_089.020
man ihren Sinn herausstellen will, von diesen menschlichen pse_089.021
Zügen absehen. Sie würden in ihrem Wesentlichen nicht pse_089.022
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ins Menschliche hinein: sie danken ihr Dasein der Begegnung pse_089.025
einer gewissen Fülle des Äußeren und Inneren.
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Bei der Dichtung nun kann dieses Menschliche ausführlicher pse_089.027
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strenge Naturwissenschaftler und Philosophen zu einem pse_089.029
Zeichensystem kommen wollen, das nur die Sachverhalte pse_089.030
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Der sei international und zugleich für uns heutige pse_089.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/105>, abgerufen am 21.11.2024.
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