pse_088.001 Das Dichtwerk als menschliche Schöpfung
pse_088.002 Gerade die Menschlichkeit des dichterischen Werkes muß pse_088.003 herausgestellt werden, da heute in dieser Hinsicht Mißverständnisse pse_088.004 drohen. Seit dem Irrationalismus, besonders seit pse_088.005 der Romantik ist dieses Menschliche an der Dichtung stark pse_088.006 betont worden. Ganz eindringlich und eindeutig sagt einmal pse_088.007 Goethe über einen Roman: "Alle die Herren irren sich, wenn pse_088.008 sie glauben, sie beurteilen ein Buch -- es ist eine Menschenseele". pse_088.009 Das hat dann dazu geführt, daß man das Erlebnis, das pse_088.010 einer Dichtung zum Anstoß diente, immer mehr betonte pse_088.011 gegenüber dem abgeschlossenen Kunstwerk. Endlich erschloß pse_088.012 man aus Dichtungen Züge und Ereignisse aus dem Leben des pse_088.013 Dichters. Dichtungen wurden zu Dokumenten für das Leben pse_088.014 einer feststellbaren Person. Alles an einer Dichtung wurde für pse_088.015 die Biographie des Dichters ausgeschrottet. Man vergaß darüber pse_088.016 das Kunstwerk, wie es in seiner dauernden Gestalt als etwas pse_088.017 für sich vor uns steht. Wir sind heute darüber hinaus, Dichtung pse_088.018 nur als biographisches Dokument zu sehen. Das bleibt pse_088.019 sie für den Psychologen und Biographen, aber damit ist sie pse_088.020 in ihrem Wesen als Kunstwerk nicht erfaßt. Dichtungen in pse_088.021 ihrem Dasein, in ihrem abgeschlossenen Gefüge, in ihrer pse_088.022 dauernden Gestalt, in ihrem tiefen Sinn und Wert sind keine pse_088.023 Beweise und Dokumente. Die konkrete Person des Dichters pse_088.024 bleibt aus ihnen ausgeschlossen. Auch die Auffassung ist bedenklich, pse_088.025 daß der Blick des Theoretikers kalt sei, der des pse_088.026 Dichters voll Liebe auf dem Menschen ruhe. Ist der Blick des pse_088.027 Dichters in die Abgründe des Menschentums bei einem Jago, pse_088.028 Macbeth, Richard III. auch voll Liebe? Ist der Blick Kafkas pse_088.029 und Thomas Manns auch durch die Liebe gekennzeichnet? pse_088.030 Auch den liebenden Blick des Dichters müssen wir als durchgehenden pse_088.031 Wesenszug im dichterischen Schaffen ausschalten. pse_088.032 Es liegt auch hier der Fehler zugrunde, daß man das Schaffen pse_088.033 aus dem tiefsten Seelengrund dem aus irgendwelchen liebevollen pse_088.034 Gefühlen gleichsetzt.
pse_088.035 Man kann es daher begreifen, wenn moderne Theoretiker pse_088.036 dieses Rührselig-Gefühlhafte scharf aus dem Wesen der Dichtung pse_088.037 ausscheiden. Aber sie geraten ins Gegenteil. Man spricht
pse_088.001 Das Dichtwerk als menschliche Schöpfung
pse_088.002 Gerade die Menschlichkeit des dichterischen Werkes muß pse_088.003 herausgestellt werden, da heute in dieser Hinsicht Mißverständnisse pse_088.004 drohen. Seit dem Irrationalismus, besonders seit pse_088.005 der Romantik ist dieses Menschliche an der Dichtung stark pse_088.006 betont worden. Ganz eindringlich und eindeutig sagt einmal pse_088.007 Goethe über einen Roman: »Alle die Herren irren sich, wenn pse_088.008 sie glauben, sie beurteilen ein Buch — es ist eine Menschenseele«. pse_088.009 Das hat dann dazu geführt, daß man das Erlebnis, das pse_088.010 einer Dichtung zum Anstoß diente, immer mehr betonte pse_088.011 gegenüber dem abgeschlossenen Kunstwerk. Endlich erschloß pse_088.012 man aus Dichtungen Züge und Ereignisse aus dem Leben des pse_088.013 Dichters. Dichtungen wurden zu Dokumenten für das Leben pse_088.014 einer feststellbaren Person. Alles an einer Dichtung wurde für pse_088.015 die Biographie des Dichters ausgeschrottet. Man vergaß darüber pse_088.016 das Kunstwerk, wie es in seiner dauernden Gestalt als etwas pse_088.017 für sich vor uns steht. Wir sind heute darüber hinaus, Dichtung pse_088.018 nur als biographisches Dokument zu sehen. Das bleibt pse_088.019 sie für den Psychologen und Biographen, aber damit ist sie pse_088.020 in ihrem Wesen als Kunstwerk nicht erfaßt. Dichtungen in pse_088.021 ihrem Dasein, in ihrem abgeschlossenen Gefüge, in ihrer pse_088.022 dauernden Gestalt, in ihrem tiefen Sinn und Wert sind keine pse_088.023 Beweise und Dokumente. Die konkrete Person des Dichters pse_088.024 bleibt aus ihnen ausgeschlossen. Auch die Auffassung ist bedenklich, pse_088.025 daß der Blick des Theoretikers kalt sei, der des pse_088.026 Dichters voll Liebe auf dem Menschen ruhe. Ist der Blick des pse_088.027 Dichters in die Abgründe des Menschentums bei einem Jago, pse_088.028 Macbeth, Richard III. auch voll Liebe? Ist der Blick Kafkas pse_088.029 und Thomas Manns auch durch die Liebe gekennzeichnet? pse_088.030 Auch den liebenden Blick des Dichters müssen wir als durchgehenden pse_088.031 Wesenszug im dichterischen Schaffen ausschalten. pse_088.032 Es liegt auch hier der Fehler zugrunde, daß man das Schaffen pse_088.033 aus dem tiefsten Seelengrund dem aus irgendwelchen liebevollen pse_088.034 Gefühlen gleichsetzt.
pse_088.035 Man kann es daher begreifen, wenn moderne Theoretiker pse_088.036 dieses Rührselig-Gefühlhafte scharf aus dem Wesen der Dichtung pse_088.037 ausscheiden. Aber sie geraten ins Gegenteil. Man spricht
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Gerade die Menschlichkeit des dichterischen Werkes muß pse_088.003
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der Romantik ist dieses Menschliche an der Dichtung stark pse_088.006
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Goethe über einen Roman: »Alle die Herren irren sich, wenn pse_088.008
sie glauben, sie beurteilen ein Buch — es ist eine Menschenseele«. pse_088.009
Das hat dann dazu geführt, daß man das Erlebnis, das pse_088.010
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Dichters. Dichtungen wurden zu Dokumenten für das Leben pse_088.014
einer feststellbaren Person. Alles an einer Dichtung wurde für pse_088.015
die Biographie des Dichters ausgeschrottet. Man vergaß darüber pse_088.016
das Kunstwerk, wie es in seiner dauernden Gestalt als etwas pse_088.017
für sich vor uns steht. Wir sind heute darüber hinaus, Dichtung pse_088.018
nur als biographisches Dokument zu sehen. Das bleibt pse_088.019
sie für den Psychologen und Biographen, aber damit ist sie pse_088.020
in ihrem Wesen als Kunstwerk nicht erfaßt. Dichtungen in pse_088.021
ihrem Dasein, in ihrem abgeschlossenen Gefüge, in ihrer pse_088.022
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/104>, abgerufen am 21.11.2024.
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