pse_085.001 Den entscheidenden Anstoß, gleichgültig in welcher Form pse_085.002 er auftritt, nennen wir die Inspiration. Sie ist natürlich abzuheben pse_085.003 von allem Göttlichen und auch von mystischen Vorgängen. pse_085.004 Aber auch bloße Automatismen führen nie zu Dichtungen. pse_085.005 Man kann nur ungefähre Angaben machen, die nie ein pse_085.006 Schema oder Klischee sein sollen: irgendein gerichtetes Vorfeld pse_085.007 ist da, eine latente Spannung und innere Sammlung. Mit pse_085.008 Goethe könnte man von einer systole, einem Zusammenziehen pse_085.009 aller Kräfte reden. Und dann springt etwas plötzlich pse_085.010 ins Dasein und entfaltet von diesem Augenblick an als pse_085.011 Schaffenskeim eine bestimmt gerichtete Wirksamkeit. Eine pse_085.012 Anregung von außen mag meist dabei im Spiel sein, ein pse_085.013 Stoff, der nun in diesem Augenblick zum Motiv wird, also pse_085.014 zur Bewegkraft, an der sich ein bestimmter Gehalt ansetzt. pse_085.015 Und dann beginnt die diastole, etwas schießt an, nimmt rasch pse_085.016 an Umfang zu. Mit diesem Stadium verbindet man oft den pse_085.017 Ausdruck des Erlebnisses: jede Dichtung entspringe aus einem pse_085.018 Erlebnis. Um diesen Begriff hat sich im letzten halben Jahrhundert pse_085.019 in der Poetik ein Streit entfacht. Vor dem Durchbruch pse_085.020 des Irrationalismus am Ende des 18. Jahrhunderts hat pse_085.021 man kaum davon gesprochen. Mit dem Sturm und Drang pse_085.022 aber setzt eine Dichtensweise ein, die diesem Begriff größte pse_085.023 Bedeutung im Dichten gibt. Man denkt vor allem immer pse_085.024 wieder an entscheidende Jugenderlebnisse Goethes (mit Friederike pse_085.025 Brion, mit Charlotte Buff), die nun sein ganzes Dichten pse_085.026 ausgelöst haben sollen und in irgendeiner sublimierten Form pse_085.027 immer wieder in dichterischer Weise auftauchen. Dilthey hat pse_085.028 in einem bekannten Werk (Das Erlebnis und die Dichtung) pse_085.029 diese Zusammenhänge herausgearbeitet. Heute findet diese pse_085.030 Auffassung, ein klar erkennbares persönliches Erlebnis liege pse_085.031 jeder Dichtung zugrunde, vielfach schärfste Ablehnung. pse_085.032 Drei Einwände werden vor allem gemacht: 1. Gedichte seien pse_085.033 nachweisbar auch aus äußeren Anlässen, aus Aufträgen, aus pse_085.034 Mode und Zeitvertreib entstanden. 2. Der Erlebnisbegriff sei pse_085.035 rein individuell und verkenne tiefere und allgemeinere Zusammenhänge. pse_085.036 3. Dichtung könne auch aus Situationen und pse_085.037 Haltungen entstehen, die nichts mit Gefühl zu tun hätten, pse_085.038 sogar aus innerer Kälte, und die Arbeit am Gedicht habe nichts
pse_085.001 Den entscheidenden Anstoß, gleichgültig in welcher Form pse_085.002 er auftritt, nennen wir die Inspiration. Sie ist natürlich abzuheben pse_085.003 von allem Göttlichen und auch von mystischen Vorgängen. pse_085.004 Aber auch bloße Automatismen führen nie zu Dichtungen. pse_085.005 Man kann nur ungefähre Angaben machen, die nie ein pse_085.006 Schema oder Klischee sein sollen: irgendein gerichtetes Vorfeld pse_085.007 ist da, eine latente Spannung und innere Sammlung. Mit pse_085.008 Goethe könnte man von einer systole, einem Zusammenziehen pse_085.009 aller Kräfte reden. Und dann springt etwas plötzlich pse_085.010 ins Dasein und entfaltet von diesem Augenblick an als pse_085.011 Schaffenskeim eine bestimmt gerichtete Wirksamkeit. Eine pse_085.012 Anregung von außen mag meist dabei im Spiel sein, ein pse_085.013 Stoff, der nun in diesem Augenblick zum Motiv wird, also pse_085.014 zur Bewegkraft, an der sich ein bestimmter Gehalt ansetzt. pse_085.015 Und dann beginnt die diastole, etwas schießt an, nimmt rasch pse_085.016 an Umfang zu. Mit diesem Stadium verbindet man oft den pse_085.017 Ausdruck des Erlebnisses: jede Dichtung entspringe aus einem pse_085.018 Erlebnis. Um diesen Begriff hat sich im letzten halben Jahrhundert pse_085.019 in der Poetik ein Streit entfacht. Vor dem Durchbruch pse_085.020 des Irrationalismus am Ende des 18. Jahrhunderts hat pse_085.021 man kaum davon gesprochen. Mit dem Sturm und Drang pse_085.022 aber setzt eine Dichtensweise ein, die diesem Begriff größte pse_085.023 Bedeutung im Dichten gibt. Man denkt vor allem immer pse_085.024 wieder an entscheidende Jugenderlebnisse Goethes (mit Friederike pse_085.025 Brion, mit Charlotte Buff), die nun sein ganzes Dichten pse_085.026 ausgelöst haben sollen und in irgendeiner sublimierten Form pse_085.027 immer wieder in dichterischer Weise auftauchen. Dilthey hat pse_085.028 in einem bekannten Werk (Das Erlebnis und die Dichtung) pse_085.029 diese Zusammenhänge herausgearbeitet. Heute findet diese pse_085.030 Auffassung, ein klar erkennbares persönliches Erlebnis liege pse_085.031 jeder Dichtung zugrunde, vielfach schärfste Ablehnung. pse_085.032 Drei Einwände werden vor allem gemacht: 1. Gedichte seien pse_085.033 nachweisbar auch aus äußeren Anlässen, aus Aufträgen, aus pse_085.034 Mode und Zeitvertreib entstanden. 2. Der Erlebnisbegriff sei pse_085.035 rein individuell und verkenne tiefere und allgemeinere Zusammenhänge. pse_085.036 3. Dichtung könne auch aus Situationen und pse_085.037 Haltungen entstehen, die nichts mit Gefühl zu tun hätten, pse_085.038 sogar aus innerer Kälte, und die Arbeit am Gedicht habe nichts
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Stoff, der nun in diesem Augenblick zum Motiv wird, also pse_085.014
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/101>, abgerufen am 21.11.2024.
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