Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Die anatolischen Türken. befassen. Daß nebenher auch das türkisch-moslemische Familien-leben, und die in demselben zu Tage tretende Unnatur seinen erheblichen Antheil an diesem Mißstande haben muß, leuchtet so ziemlich ein1. Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte Wille auf Seite der leitenden Persönlichkeiten, derlei Uebelständen abzuhelfen, störend dazwischen treten, sondern auch der Dünkel und die Ignoranz der zur geistigen Befruchtung sich berufen fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßlosen Selbstbe- wußtsein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der geistigen Production abgeben2. Es ist sonach nicht blos die all- gemeine Volksbildung, die so sehr im Argen liegt, sondern auch die höhere, wissenschaftliche Erziehung in jenen Kreisen, die durch Einfluß und Stellung zunächst in diese Frage thätigst einzugreifen vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieses Einflusses fühlt und zu gelegener Zeit auch nicht verabsäumte, seinen Tadel laut werden zu lassen, haben wir in jüngster Zeit wiederholt erlebt, zumal durch die unerwartet schroffe oppositionelle Haltung einer großen Zahl der türkischen und arabischen Volksvertreter im 1 Besonders arg ist es hier mit der ersten Erziehung des Kindes bestellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens ist nie die Rede, im Gegentheile, der Wille des Kindes ist unter allen Umständen Gesetz für seine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber seine Bemerkungen macht, so heißt es: "Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr" -- "Was soll ich machen? Das Kind will es so haben, es wäre doch schade." (Der anonyme Autor von "Stambul u. d. mod. Türkenthum", I, 131.) 2 So hat neuestens ein Stambuler Historiograph, ein gewisser Schakir
Schefket Effendi, eine Geschichte Trapezunts (Tarabozan Tarihi) publicirt, in der folgender Blödsinn zu lesen ist. Der Verfasser kennt nämlich die Ableitung des Namens Trapezunt von der Gestalt der ältesten Stadt, behauptet aber, diese Ableitung sei irrig; der Name rühre vielmehr davon her, daß am Strande runde Steine in Tischform vorkämen, was eben den Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort einst ein Mann geherrscht, der in seinen Händen eine solche Stärke hatte, daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkischen Münzen mit den Fingern zerstören konnte, weshalb man ihn "Tugra-Bozan" (den Tugra-Zerstörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man später auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der "Allg. Ztg.", Nr. 5 (Beil.), 1878.) Solche Gelehrsamkeit ist bezeichnend für das Ka- liber der türkischen "Ritter vom Geiste" und ihren Culturberuf nach unten. Die anatoliſchen Türken. befaſſen. Daß nebenher auch das türkiſch-moslemiſche Familien-leben, und die in demſelben zu Tage tretende Unnatur ſeinen erheblichen Antheil an dieſem Mißſtande haben muß, leuchtet ſo ziemlich ein1. Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte Wille auf Seite der leitenden Perſönlichkeiten, derlei Uebelſtänden abzuhelfen, ſtörend dazwiſchen treten, ſondern auch der Dünkel und die Ignoranz der zur geiſtigen Befruchtung ſich berufen fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßloſen Selbſtbe- wußtſein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der geiſtigen Production abgeben2. Es iſt ſonach nicht blos die all- gemeine Volksbildung, die ſo ſehr im Argen liegt, ſondern auch die höhere, wiſſenſchaftliche Erziehung in jenen Kreiſen, die durch Einfluß und Stellung zunächſt in dieſe Frage thätigſt einzugreifen vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieſes Einfluſſes fühlt und zu gelegener Zeit auch nicht verabſäumte, ſeinen Tadel laut werden zu laſſen, haben wir in jüngſter Zeit wiederholt erlebt, zumal durch die unerwartet ſchroffe oppoſitionelle Haltung einer großen Zahl der türkiſchen und arabiſchen Volksvertreter im 1 Beſonders arg iſt es hier mit der erſten Erziehung des Kindes beſtellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens iſt nie die Rede, im Gegentheile, der Wille des Kindes iſt unter allen Umſtänden Geſetz für ſeine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber ſeine Bemerkungen macht, ſo heißt es: „Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr“ — „Was ſoll ich machen? Das Kind will es ſo haben, es wäre doch ſchade.“ (Der anonyme Autor von „Stambul u. d. mod. Türkenthum“, I, 131.) 2 So hat neueſtens ein Stambuler Hiſtoriograph, ein gewiſſer Schakir
Schefket Effendi, eine Geſchichte Trapezunts (Tarabozan Tarihi) publicirt, in der folgender Blödſinn zu leſen iſt. Der Verfaſſer kennt nämlich die Ableitung des Namens Trapezunt von der Geſtalt der älteſten Stadt, behauptet aber, dieſe Ableitung ſei irrig; der Name rühre vielmehr davon her, daß am Strande runde Steine in Tiſchform vorkämen, was eben den Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort einſt ein Mann geherrſcht, der in ſeinen Händen eine ſolche Stärke hatte, daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkiſchen Münzen mit den Fingern zerſtören konnte, weshalb man ihn „Tugra-Bozan“ (den Tugra-Zerſtörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man ſpäter auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der „Allg. Ztg.“, Nr. 5 (Beil.), 1878.) Solche Gelehrſamkeit iſt bezeichnend für das Ka- liber der türkiſchen „Ritter vom Geiſte“ und ihren Culturberuf nach unten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0253" n="221"/><fw place="top" type="header">Die anatoliſchen Türken.</fw><lb/> befaſſen. Daß nebenher auch das türkiſch-moslemiſche Familien-<lb/> leben, und die in demſelben zu Tage tretende Unnatur ſeinen<lb/> erheblichen Antheil an dieſem Mißſtande haben muß, leuchtet ſo<lb/> ziemlich ein<note place="foot" n="1">Beſonders arg iſt es hier mit der erſten Erziehung des Kindes<lb/> beſtellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens iſt nie die Rede, im<lb/> Gegentheile, der Wille des Kindes iſt unter allen Umſtänden Geſetz für<lb/> ſeine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich<lb/> vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber ſeine Bemerkungen macht, ſo<lb/> heißt es: <hi rendition="#aq">„Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr“</hi> — „Was ſoll<lb/> ich machen? Das Kind will es ſo haben, es wäre doch ſchade.“ (Der<lb/> anonyme Autor von „Stambul u. d. mod. Türkenthum“, <hi rendition="#aq">I</hi>, 131.)</note>. Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte<lb/> Wille auf Seite der leitenden Perſönlichkeiten, derlei Uebelſtänden<lb/> abzuhelfen, ſtörend dazwiſchen treten, ſondern auch der Dünkel<lb/> und die Ignoranz der zur geiſtigen Befruchtung ſich berufen<lb/> fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßloſen Selbſtbe-<lb/> wußtſein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der<lb/> geiſtigen Production abgeben<note place="foot" n="2">So hat neueſtens ein Stambuler Hiſtoriograph, ein gewiſſer Schakir<lb/> Schefket Effendi, eine Geſchichte Trapezunts (<hi rendition="#aq">Tarabozan Tarihi</hi>) publicirt,<lb/> in der folgender Blödſinn zu leſen iſt. Der Verfaſſer kennt nämlich die<lb/> Ableitung des Namens Trapezunt von der Geſtalt der älteſten Stadt,<lb/> behauptet aber, dieſe Ableitung ſei irrig; der Name rühre vielmehr davon<lb/> her, daß am Strande runde Steine in Tiſchform vorkämen, was eben den<lb/> Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort<lb/> einſt ein Mann geherrſcht, der in ſeinen Händen eine ſolche Stärke hatte,<lb/> daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkiſchen Münzen<lb/> mit den Fingern zerſtören konnte, weshalb man ihn „Tugra-Bozan“ (den<lb/> Tugra-Zerſtörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man<lb/> ſpäter auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der „Allg. Ztg.“,<lb/> Nr. 5 (Beil.), 1878.) Solche Gelehrſamkeit iſt bezeichnend für das Ka-<lb/> liber der türkiſchen „Ritter vom Geiſte“ und ihren Culturberuf nach<lb/> unten.</note>. Es iſt ſonach nicht blos die all-<lb/> gemeine Volksbildung, die ſo ſehr im Argen liegt, ſondern auch<lb/> die höhere, wiſſenſchaftliche Erziehung in jenen Kreiſen, die durch<lb/> Einfluß und Stellung zunächſt in dieſe Frage thätigſt einzugreifen<lb/> vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieſes Einfluſſes fühlt<lb/> und zu gelegener Zeit auch nicht verabſäumte, ſeinen Tadel laut<lb/> werden zu laſſen, haben wir in jüngſter Zeit wiederholt erlebt,<lb/> zumal durch die unerwartet ſchroffe oppoſitionelle Haltung einer<lb/> großen Zahl der türkiſchen und arabiſchen Volksvertreter im<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [221/0253]
Die anatoliſchen Türken.
befaſſen. Daß nebenher auch das türkiſch-moslemiſche Familien-
leben, und die in demſelben zu Tage tretende Unnatur ſeinen
erheblichen Antheil an dieſem Mißſtande haben muß, leuchtet ſo
ziemlich ein 1. Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte
Wille auf Seite der leitenden Perſönlichkeiten, derlei Uebelſtänden
abzuhelfen, ſtörend dazwiſchen treten, ſondern auch der Dünkel
und die Ignoranz der zur geiſtigen Befruchtung ſich berufen
fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßloſen Selbſtbe-
wußtſein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der
geiſtigen Production abgeben 2. Es iſt ſonach nicht blos die all-
gemeine Volksbildung, die ſo ſehr im Argen liegt, ſondern auch
die höhere, wiſſenſchaftliche Erziehung in jenen Kreiſen, die durch
Einfluß und Stellung zunächſt in dieſe Frage thätigſt einzugreifen
vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieſes Einfluſſes fühlt
und zu gelegener Zeit auch nicht verabſäumte, ſeinen Tadel laut
werden zu laſſen, haben wir in jüngſter Zeit wiederholt erlebt,
zumal durch die unerwartet ſchroffe oppoſitionelle Haltung einer
großen Zahl der türkiſchen und arabiſchen Volksvertreter im
1 Beſonders arg iſt es hier mit der erſten Erziehung des Kindes
beſtellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens iſt nie die Rede, im
Gegentheile, der Wille des Kindes iſt unter allen Umſtänden Geſetz für
ſeine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich
vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber ſeine Bemerkungen macht, ſo
heißt es: „Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr“ — „Was ſoll
ich machen? Das Kind will es ſo haben, es wäre doch ſchade.“ (Der
anonyme Autor von „Stambul u. d. mod. Türkenthum“, I, 131.)
2 So hat neueſtens ein Stambuler Hiſtoriograph, ein gewiſſer Schakir
Schefket Effendi, eine Geſchichte Trapezunts (Tarabozan Tarihi) publicirt,
in der folgender Blödſinn zu leſen iſt. Der Verfaſſer kennt nämlich die
Ableitung des Namens Trapezunt von der Geſtalt der älteſten Stadt,
behauptet aber, dieſe Ableitung ſei irrig; der Name rühre vielmehr davon
her, daß am Strande runde Steine in Tiſchform vorkämen, was eben den
Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort
einſt ein Mann geherrſcht, der in ſeinen Händen eine ſolche Stärke hatte,
daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkiſchen Münzen
mit den Fingern zerſtören konnte, weshalb man ihn „Tugra-Bozan“ (den
Tugra-Zerſtörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man
ſpäter auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der „Allg. Ztg.“,
Nr. 5 (Beil.), 1878.) Solche Gelehrſamkeit iſt bezeichnend für das Ka-
liber der türkiſchen „Ritter vom Geiſte“ und ihren Culturberuf nach
unten.
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