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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Anhang. Anatolische Fragmente.
hatte, ist unschwer zu begreifen. Die Theoremen eines modernen
Staatslebens würden weniger an der Unehrlichkeit der Bureau-
kratie, an der Unfähigkeit der Reichsvertreter und am Fanatismus
der Priesterkaste scheitern, als vielmehr an der beispiellosen Träg-
heit der Individuen und der daraus entspringenden Gleichgiltig-
keit gegen Alles, was den Kreis ihrer angeerbten täglichen Be-
dürfnisse überschreitet 1. Als einst diese Kostgänger Allahs in
einer solchen pilotirten Kaffeebude Licht, Luft und Meer genossen,
brach das Gebälke unter ihren Füßen und sie fanden hart am
Ufer ihren Tod in den Wellen und unter den Holztrümmern.
Der Fall machte einige Zeit von sich reden, dann ward er ver-
gessen und heute sitzen andere derartige Kostgänger in einer
anderen ähnlichen baufälligen Bude, an sie gefesselt durch die
starke Regel der Gewohnheit, gegen die sie in ihrem eisernen
Conservatismus nicht anzukämpfen vermögen. Aus dieser Apathie
der smyrniotischen Moslims erwächst indeß ein Vortheil, nämlich
der ihrer verhältnißmäßig großen Toleranz 2. Während alle
größeren Städte des Reiches, Erzerum, Trapezunt, Brussa, Aleppo,
Damascus und selbst das ferne Bagdad, wiederholt Schauplätze
furchtbarer Excesse waren, erinnert man sich an derlei in Smyrna
seit Menschengedenken nicht mehr. Auch die neuestens gemeldeten
Tumulte, welche die anatolischen Baschi-Bozuks -- wohl die

1 Wenn heute der Geist einer der Koryphäen islamitischer Macht und
Literaturblüthe herniedersteigen möchte, er würde sein Antlitz vor tief
innerlichem Schmerze verhüllen, ob des verkommenen intellectuellen Zu-
standes, in welchem sich jetzt die Nachfolger des Propheten zum großen
Theile befinden. Das, was den Blutumlauf des staatlichen und gesell-
schaftlichen Organismus frisch, gesund und unverdorben erhält, ein ratio-
nelles Unterrichts- und Erziehungssystem, ist da kaum dem Namen nach
bekannt. Wohl fehlt es nicht an gesetzlichen, das öffentliche Schulwesen
regelnden Anordnungen, auch nicht an vereinzelten Versuchen, dem auf-
leuchtenden Bildungsbedürfnisse besonders in den höheren Volksschichten
entgegenzukommen; aber bei den eigenthümlichen Gesichtspunkten in
Voraussetzungen, auf welchen alles Denken und Empfinden der Moslims
beruht, bei der Abwesenheit alles dessen, was zur sittlichen Aufrichtung
und innern Festigung des Familienlebens unabweislich erscheint, muß
jeder noch so wohlgemeinte Anlauf auf dem Unterrichtsfelde jede reale Be-
deutung verlieren. (C. v. Scherzer, "Smyrna etc.", 62 u. ff.)
2 C. v. Scherzer, a. a. O., 53.

Anhang. Anatoliſche Fragmente.
hatte, iſt unſchwer zu begreifen. Die Theoremen eines modernen
Staatslebens würden weniger an der Unehrlichkeit der Bureau-
kratie, an der Unfähigkeit der Reichsvertreter und am Fanatismus
der Prieſterkaſte ſcheitern, als vielmehr an der beiſpielloſen Träg-
heit der Individuen und der daraus entſpringenden Gleichgiltig-
keit gegen Alles, was den Kreis ihrer angeerbten täglichen Be-
dürfniſſe überſchreitet 1. Als einſt dieſe Koſtgänger Allahs in
einer ſolchen pilotirten Kaffeebude Licht, Luft und Meer genoſſen,
brach das Gebälke unter ihren Füßen und ſie fanden hart am
Ufer ihren Tod in den Wellen und unter den Holztrümmern.
Der Fall machte einige Zeit von ſich reden, dann ward er ver-
geſſen und heute ſitzen andere derartige Koſtgänger in einer
anderen ähnlichen baufälligen Bude, an ſie gefeſſelt durch die
ſtarke Regel der Gewohnheit, gegen die ſie in ihrem eiſernen
Conſervatismus nicht anzukämpfen vermögen. Aus dieſer Apathie
der ſmyrniotiſchen Moslims erwächſt indeß ein Vortheil, nämlich
der ihrer verhältnißmäßig großen Toleranz 2. Während alle
größeren Städte des Reiches, Erzerum, Trapezunt, Bruſſa, Aleppo,
Damascus und ſelbſt das ferne Bagdad, wiederholt Schauplätze
furchtbarer Exceſſe waren, erinnert man ſich an derlei in Smyrna
ſeit Menſchengedenken nicht mehr. Auch die neueſtens gemeldeten
Tumulte, welche die anatoliſchen Baſchi-Bozuks — wohl die

1 Wenn heute der Geiſt einer der Koryphäen islamitiſcher Macht und
Literaturblüthe herniederſteigen möchte, er würde ſein Antlitz vor tief
innerlichem Schmerze verhüllen, ob des verkommenen intellectuellen Zu-
ſtandes, in welchem ſich jetzt die Nachfolger des Propheten zum großen
Theile befinden. Das, was den Blutumlauf des ſtaatlichen und geſell-
ſchaftlichen Organismus friſch, geſund und unverdorben erhält, ein ratio-
nelles Unterrichts- und Erziehungsſyſtem, iſt da kaum dem Namen nach
bekannt. Wohl fehlt es nicht an geſetzlichen, das öffentliche Schulweſen
regelnden Anordnungen, auch nicht an vereinzelten Verſuchen, dem auf-
leuchtenden Bildungsbedürfniſſe beſonders in den höheren Volksſchichten
entgegenzukommen; aber bei den eigenthümlichen Geſichtspunkten in
Vorausſetzungen, auf welchen alles Denken und Empfinden der Moslims
beruht, bei der Abweſenheit alles deſſen, was zur ſittlichen Aufrichtung
und innern Feſtigung des Familienlebens unabweislich erſcheint, muß
jeder noch ſo wohlgemeinte Anlauf auf dem Unterrichtsfelde jede reale Be-
deutung verlieren. (C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 62 u. ff.)
2 C. v. Scherzer, a. a. O., 53.
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[172/0204] Anhang. Anatoliſche Fragmente. hatte, iſt unſchwer zu begreifen. Die Theoremen eines modernen Staatslebens würden weniger an der Unehrlichkeit der Bureau- kratie, an der Unfähigkeit der Reichsvertreter und am Fanatismus der Prieſterkaſte ſcheitern, als vielmehr an der beiſpielloſen Träg- heit der Individuen und der daraus entſpringenden Gleichgiltig- keit gegen Alles, was den Kreis ihrer angeerbten täglichen Be- dürfniſſe überſchreitet 1. Als einſt dieſe Koſtgänger Allahs in einer ſolchen pilotirten Kaffeebude Licht, Luft und Meer genoſſen, brach das Gebälke unter ihren Füßen und ſie fanden hart am Ufer ihren Tod in den Wellen und unter den Holztrümmern. Der Fall machte einige Zeit von ſich reden, dann ward er ver- geſſen und heute ſitzen andere derartige Koſtgänger in einer anderen ähnlichen baufälligen Bude, an ſie gefeſſelt durch die ſtarke Regel der Gewohnheit, gegen die ſie in ihrem eiſernen Conſervatismus nicht anzukämpfen vermögen. Aus dieſer Apathie der ſmyrniotiſchen Moslims erwächſt indeß ein Vortheil, nämlich der ihrer verhältnißmäßig großen Toleranz 2. Während alle größeren Städte des Reiches, Erzerum, Trapezunt, Bruſſa, Aleppo, Damascus und ſelbſt das ferne Bagdad, wiederholt Schauplätze furchtbarer Exceſſe waren, erinnert man ſich an derlei in Smyrna ſeit Menſchengedenken nicht mehr. Auch die neueſtens gemeldeten Tumulte, welche die anatoliſchen Baſchi-Bozuks — wohl die 1 Wenn heute der Geiſt einer der Koryphäen islamitiſcher Macht und Literaturblüthe herniederſteigen möchte, er würde ſein Antlitz vor tief innerlichem Schmerze verhüllen, ob des verkommenen intellectuellen Zu- ſtandes, in welchem ſich jetzt die Nachfolger des Propheten zum großen Theile befinden. Das, was den Blutumlauf des ſtaatlichen und geſell- ſchaftlichen Organismus friſch, geſund und unverdorben erhält, ein ratio- nelles Unterrichts- und Erziehungsſyſtem, iſt da kaum dem Namen nach bekannt. Wohl fehlt es nicht an geſetzlichen, das öffentliche Schulweſen regelnden Anordnungen, auch nicht an vereinzelten Verſuchen, dem auf- leuchtenden Bildungsbedürfniſſe beſonders in den höheren Volksſchichten entgegenzukommen; aber bei den eigenthümlichen Geſichtspunkten in Vorausſetzungen, auf welchen alles Denken und Empfinden der Moslims beruht, bei der Abweſenheit alles deſſen, was zur ſittlichen Aufrichtung und innern Feſtigung des Familienlebens unabweislich erſcheint, muß jeder noch ſo wohlgemeinte Anlauf auf dem Unterrichtsfelde jede reale Be- deutung verlieren. (C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 62 u. ff.) 2 C. v. Scherzer, a. a. O., 53.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/204>, abgerufen am 24.11.2024.