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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Ueberblick auf Gesammt-Armenien.
hältniß der Unterwürfigkeit freilich nur ein äußeres und im Innern
verachtet der Armenier, wie irgend ein anderer christlicher Unter-
than der Pforte die Herren des Landes, ohne auch nur im
Entferntesten daran zu denken, diese Stimmung laut hervorzukehren.
Dazu fehlt ihm der kriegerische Muth, der gerade bei diesem Volke
niemals zum Ausdruck gekommen ist. Wir haben im Verlaufe
unserer Untersuchungen und Schilderungen gesehen, wie wenig
inneres, politisches Bewußtsein dem durch die natürliche Be-
schaffenheit seiner Heimat zu einer gewissen Unabhängigkeit prä-
destinirten Bergvolke von Anbeginn her eigen war und wie selten
die nationale Kraft aufgewendet wurde, um selbst die schmählichste
Sklaverei zu brechen. Die ersten asiatischen Gewalthaber haben
es spielend unter ihre Herrschaft gebracht, später zerstampften
barbarische Horden seine Fluren, sie zerstörten seine Städte und
schlugen die Bewohner selbst in Ketten. Wozu die früheren Ar-
menier noch einige Energie aufzubieten für nöthig fanden, das
war ihr junger Glaube zu Anfang der ersten Jahrhunderte; aber
dieser Opfermuth dürfte kaum auf Rechnung des Volkes selbst,
denn vielmehr auf den fanatischen Zug des christlichen Martyriums
zu setzen sein, zudem die Religion des Nazareners in der Person
schwärmerischer Leidensapostel hinneigte. Dieser Umstand ist
gleichwohl von Bedeutung, denn er hat späterhin die compacte
Masse des armenischen Volkes jener Religion erhalten, der die
abendländischen Völker ihre jetzige hohe Gesittung und Cultur
zu verdanken haben. Als christliche Etappe zwischen Orient und
Occident wird Armenien zunächst demjenigen Eroberer zugute
kommen, an den es durch die Bande des gleichen Glaubensbekennt-
nisses naturgemäß gebunden ist, das ist: Rußland.

Durch die sociale Präponderanz der osmanischen Race hat
in Armenien namentlich die Stellung der Frau arg gelitten 1.
Das innerste Familienleben ruht zwar auf einer unvergleichlich

1 Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwischen
ihm und den übrigen Fremden, eine Verkehrsart, die sich um so leichter
gestaltet, als die Armenier (namentlich in den übrigen Provinzen) die
türkische Sprache bis zum Vergessen ihrer eigenen angenommen haben.
Aber auch mehrere andere Idiome noch werden von der Mehrzahl der
Armenier erlernt, da sich mit ihrer Muttersprache fast nie Jemand beschäftigt.
(v. Scherzer, "Smyrna etc.", 50.)

Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
hältniß der Unterwürfigkeit freilich nur ein äußeres und im Innern
verachtet der Armenier, wie irgend ein anderer chriſtlicher Unter-
than der Pforte die Herren des Landes, ohne auch nur im
Entfernteſten daran zu denken, dieſe Stimmung laut hervorzukehren.
Dazu fehlt ihm der kriegeriſche Muth, der gerade bei dieſem Volke
niemals zum Ausdruck gekommen iſt. Wir haben im Verlaufe
unſerer Unterſuchungen und Schilderungen geſehen, wie wenig
inneres, politiſches Bewußtſein dem durch die natürliche Be-
ſchaffenheit ſeiner Heimat zu einer gewiſſen Unabhängigkeit prä-
deſtinirten Bergvolke von Anbeginn her eigen war und wie ſelten
die nationale Kraft aufgewendet wurde, um ſelbſt die ſchmählichſte
Sklaverei zu brechen. Die erſten aſiatiſchen Gewalthaber haben
es ſpielend unter ihre Herrſchaft gebracht, ſpäter zerſtampften
barbariſche Horden ſeine Fluren, ſie zerſtörten ſeine Städte und
ſchlugen die Bewohner ſelbſt in Ketten. Wozu die früheren Ar-
menier noch einige Energie aufzubieten für nöthig fanden, das
war ihr junger Glaube zu Anfang der erſten Jahrhunderte; aber
dieſer Opfermuth dürfte kaum auf Rechnung des Volkes ſelbſt,
denn vielmehr auf den fanatiſchen Zug des chriſtlichen Martyriums
zu ſetzen ſein, zudem die Religion des Nazareners in der Perſon
ſchwärmeriſcher Leidensapoſtel hinneigte. Dieſer Umſtand iſt
gleichwohl von Bedeutung, denn er hat ſpäterhin die compacte
Maſſe des armeniſchen Volkes jener Religion erhalten, der die
abendländiſchen Völker ihre jetzige hohe Geſittung und Cultur
zu verdanken haben. Als chriſtliche Etappe zwiſchen Orient und
Occident wird Armenien zunächſt demjenigen Eroberer zugute
kommen, an den es durch die Bande des gleichen Glaubensbekennt-
niſſes naturgemäß gebunden iſt, das iſt: Rußland.

Durch die ſociale Präponderanz der osmaniſchen Race hat
in Armenien namentlich die Stellung der Frau arg gelitten 1.
Das innerſte Familienleben ruht zwar auf einer unvergleichlich

1 Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwiſchen
ihm und den übrigen Fremden, eine Verkehrsart, die ſich um ſo leichter
geſtaltet, als die Armenier (namentlich in den übrigen Provinzen) die
türkiſche Sprache bis zum Vergeſſen ihrer eigenen angenommen haben.
Aber auch mehrere andere Idiome noch werden von der Mehrzahl der
Armenier erlernt, da ſich mit ihrer Mutterſprache faſt nie Jemand beſchäftigt.
(v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 50.)
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[138/0170] Ueberblick auf Geſammt-Armenien. hältniß der Unterwürfigkeit freilich nur ein äußeres und im Innern verachtet der Armenier, wie irgend ein anderer chriſtlicher Unter- than der Pforte die Herren des Landes, ohne auch nur im Entfernteſten daran zu denken, dieſe Stimmung laut hervorzukehren. Dazu fehlt ihm der kriegeriſche Muth, der gerade bei dieſem Volke niemals zum Ausdruck gekommen iſt. Wir haben im Verlaufe unſerer Unterſuchungen und Schilderungen geſehen, wie wenig inneres, politiſches Bewußtſein dem durch die natürliche Be- ſchaffenheit ſeiner Heimat zu einer gewiſſen Unabhängigkeit prä- deſtinirten Bergvolke von Anbeginn her eigen war und wie ſelten die nationale Kraft aufgewendet wurde, um ſelbſt die ſchmählichſte Sklaverei zu brechen. Die erſten aſiatiſchen Gewalthaber haben es ſpielend unter ihre Herrſchaft gebracht, ſpäter zerſtampften barbariſche Horden ſeine Fluren, ſie zerſtörten ſeine Städte und ſchlugen die Bewohner ſelbſt in Ketten. Wozu die früheren Ar- menier noch einige Energie aufzubieten für nöthig fanden, das war ihr junger Glaube zu Anfang der erſten Jahrhunderte; aber dieſer Opfermuth dürfte kaum auf Rechnung des Volkes ſelbſt, denn vielmehr auf den fanatiſchen Zug des chriſtlichen Martyriums zu ſetzen ſein, zudem die Religion des Nazareners in der Perſon ſchwärmeriſcher Leidensapoſtel hinneigte. Dieſer Umſtand iſt gleichwohl von Bedeutung, denn er hat ſpäterhin die compacte Maſſe des armeniſchen Volkes jener Religion erhalten, der die abendländiſchen Völker ihre jetzige hohe Geſittung und Cultur zu verdanken haben. Als chriſtliche Etappe zwiſchen Orient und Occident wird Armenien zunächſt demjenigen Eroberer zugute kommen, an den es durch die Bande des gleichen Glaubensbekennt- niſſes naturgemäß gebunden iſt, das iſt: Rußland. Durch die ſociale Präponderanz der osmaniſchen Race hat in Armenien namentlich die Stellung der Frau arg gelitten 1. Das innerſte Familienleben ruht zwar auf einer unvergleichlich 1 Der Türke betrachtet den Armenier als eine Art Bindeglied zwiſchen ihm und den übrigen Fremden, eine Verkehrsart, die ſich um ſo leichter geſtaltet, als die Armenier (namentlich in den übrigen Provinzen) die türkiſche Sprache bis zum Vergeſſen ihrer eigenen angenommen haben. Aber auch mehrere andere Idiome noch werden von der Mehrzahl der Armenier erlernt, da ſich mit ihrer Mutterſprache faſt nie Jemand beſchäftigt. (v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 50.)

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/170>, abgerufen am 24.11.2024.