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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Das armenische Kaschmir (Daron). Musch.
Heute ist, wie schon erwähnt, jede Spur dieser classischen Er-
innerungen im Volke verwischt und die kurdische Räuberromantik
mit ihren legendaren Kundgebungen hat die Heldengeschichten
des iranischen Königsbuches, die sich seinerzeit auch ins Armenische
eingeschmuggelt hatten, verdrängt.

Nach dem Ueberschreiten des Tschakhma-Dagh öffnet sich
plötzlich das Bild nach dem wärmeren Süden, in dessen scheinbar
unendlicher Ferne die phantastisch geformten Kammrücken und
Schneewipfel des kurdischen Taurus in Sicht gelangen. Saftige
Weiden breiten sich ringsum mit den zahllosen Heerden und
den schwarzen Kegelzelten der kurdischen Nomaden1. Um aber
in das unmittelbare Eufratbecken zu gelangen, bedarf es noch
eines verwegenen Rittes mitten durch Districte räuberischer Berg-
bewohner und auch jenes unvergleichliche Panorama entzieht sich
unseren Blicken, um erst später wieder genossen zu werden, wenn
unser Weg uns durch die wilde Eufratschlucht am Schereftin-
Gebirge in die große Ebene von Musch versetzt. Abermals
schließt der schneebedeckte Tauruszug das lachende Bild im Süden
ab. Licht und Luft weben über den unübersehbaren Plan farb-
matte Schleier und durch dieselben schimmern die zahllosen Dörfer
der Armenier aus ihrem Gartengrün oder aus den weiten Matten
und Feldern. Es ist das armenische Kaschmir, in das wir hinab-
blicken. Rings hat sich die Gebirgsnatur in großartiger Mannig-
faltigkeit entwickelt und die Riesenhäupter des Thalbeckens blicken
hier ebenso in die Obst- und Blüthengärten nieder, wie jene ge-
waltigeren Schneewipfel des Himalaya in die Ebene des Tschelem
(Thalum) und des Wollar-Sees. In Musch selbst erleidet dies
Bild nun allerdings einigen Abbruch. Die Stadt liegt zum Theil auf
einem Hügel, unmittelbar am Nordfuße des kurdischen Taurus,
zum Theil in einer engen Schlucht, und so lachend die Ebene
ringsum ist, so elend nehmen sich die schmutzigen, winkeligen Gassen
und die baufälligen Häuser des Ortes aus, der im Uebrigen
nicht ganz ohne Gewerbfleiß ist. Der Weinstock, der hier gedeiht,
ist derselbe, welcher Xenophons Lob geerntet hat, als er nach
dem beschwerlichen Rückzuge durch das Karduchengebirge seinen

1 Cap. Wilbraham, "Trav. in Transcaucasia etc."

Das armeniſche Kaſchmir (Daron). Muſch.
Heute iſt, wie ſchon erwähnt, jede Spur dieſer claſſiſchen Er-
innerungen im Volke verwiſcht und die kurdiſche Räuberromantik
mit ihren legendaren Kundgebungen hat die Heldengeſchichten
des iraniſchen Königsbuches, die ſich ſeinerzeit auch ins Armeniſche
eingeſchmuggelt hatten, verdrängt.

Nach dem Ueberſchreiten des Tſchakhma-Dagh öffnet ſich
plötzlich das Bild nach dem wärmeren Süden, in deſſen ſcheinbar
unendlicher Ferne die phantaſtiſch geformten Kammrücken und
Schneewipfel des kurdiſchen Taurus in Sicht gelangen. Saftige
Weiden breiten ſich ringsum mit den zahlloſen Heerden und
den ſchwarzen Kegelzelten der kurdiſchen Nomaden1. Um aber
in das unmittelbare Eufratbecken zu gelangen, bedarf es noch
eines verwegenen Rittes mitten durch Diſtricte räuberiſcher Berg-
bewohner und auch jenes unvergleichliche Panorama entzieht ſich
unſeren Blicken, um erſt ſpäter wieder genoſſen zu werden, wenn
unſer Weg uns durch die wilde Eufratſchlucht am Schereftin-
Gebirge in die große Ebene von Muſch verſetzt. Abermals
ſchließt der ſchneebedeckte Tauruszug das lachende Bild im Süden
ab. Licht und Luft weben über den unüberſehbaren Plan farb-
matte Schleier und durch dieſelben ſchimmern die zahlloſen Dörfer
der Armenier aus ihrem Gartengrün oder aus den weiten Matten
und Feldern. Es iſt das armeniſche Kaſchmir, in das wir hinab-
blicken. Rings hat ſich die Gebirgsnatur in großartiger Mannig-
faltigkeit entwickelt und die Rieſenhäupter des Thalbeckens blicken
hier ebenſo in die Obſt- und Blüthengärten nieder, wie jene ge-
waltigeren Schneewipfel des Himalaya in die Ebene des Tſchelem
(Thalum) und des Wollar-Sees. In Muſch ſelbſt erleidet dies
Bild nun allerdings einigen Abbruch. Die Stadt liegt zum Theil auf
einem Hügel, unmittelbar am Nordfuße des kurdiſchen Taurus,
zum Theil in einer engen Schlucht, und ſo lachend die Ebene
ringsum iſt, ſo elend nehmen ſich die ſchmutzigen, winkeligen Gaſſen
und die baufälligen Häuſer des Ortes aus, der im Uebrigen
nicht ganz ohne Gewerbfleiß iſt. Der Weinſtock, der hier gedeiht,
iſt derſelbe, welcher Xenophons Lob geerntet hat, als er nach
dem beſchwerlichen Rückzuge durch das Karduchengebirge ſeinen

1 Cap. Wilbraham, „Trav. in Transcaucasia etc.“
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[95/0127] Das armeniſche Kaſchmir (Daron). Muſch. Heute iſt, wie ſchon erwähnt, jede Spur dieſer claſſiſchen Er- innerungen im Volke verwiſcht und die kurdiſche Räuberromantik mit ihren legendaren Kundgebungen hat die Heldengeſchichten des iraniſchen Königsbuches, die ſich ſeinerzeit auch ins Armeniſche eingeſchmuggelt hatten, verdrängt. Nach dem Ueberſchreiten des Tſchakhma-Dagh öffnet ſich plötzlich das Bild nach dem wärmeren Süden, in deſſen ſcheinbar unendlicher Ferne die phantaſtiſch geformten Kammrücken und Schneewipfel des kurdiſchen Taurus in Sicht gelangen. Saftige Weiden breiten ſich ringsum mit den zahlloſen Heerden und den ſchwarzen Kegelzelten der kurdiſchen Nomaden 1. Um aber in das unmittelbare Eufratbecken zu gelangen, bedarf es noch eines verwegenen Rittes mitten durch Diſtricte räuberiſcher Berg- bewohner und auch jenes unvergleichliche Panorama entzieht ſich unſeren Blicken, um erſt ſpäter wieder genoſſen zu werden, wenn unſer Weg uns durch die wilde Eufratſchlucht am Schereftin- Gebirge in die große Ebene von Muſch verſetzt. Abermals ſchließt der ſchneebedeckte Tauruszug das lachende Bild im Süden ab. Licht und Luft weben über den unüberſehbaren Plan farb- matte Schleier und durch dieſelben ſchimmern die zahlloſen Dörfer der Armenier aus ihrem Gartengrün oder aus den weiten Matten und Feldern. Es iſt das armeniſche Kaſchmir, in das wir hinab- blicken. Rings hat ſich die Gebirgsnatur in großartiger Mannig- faltigkeit entwickelt und die Rieſenhäupter des Thalbeckens blicken hier ebenſo in die Obſt- und Blüthengärten nieder, wie jene ge- waltigeren Schneewipfel des Himalaya in die Ebene des Tſchelem (Thalum) und des Wollar-Sees. In Muſch ſelbſt erleidet dies Bild nun allerdings einigen Abbruch. Die Stadt liegt zum Theil auf einem Hügel, unmittelbar am Nordfuße des kurdiſchen Taurus, zum Theil in einer engen Schlucht, und ſo lachend die Ebene ringsum iſt, ſo elend nehmen ſich die ſchmutzigen, winkeligen Gaſſen und die baufälligen Häuſer des Ortes aus, der im Uebrigen nicht ganz ohne Gewerbfleiß iſt. Der Weinſtock, der hier gedeiht, iſt derſelbe, welcher Xenophons Lob geerntet hat, als er nach dem beſchwerlichen Rückzuge durch das Karduchengebirge ſeinen 1 Cap. Wilbraham, „Trav. in Transcaucasia etc.“

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/127>, abgerufen am 24.11.2024.