Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Die kaukasische Emigration. wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonstrirten,daß alle poetischen Emanationen früherer Reisender eitel Humbug seien. Es ist nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des Kaukasus Mancherlei anhaftet, sei's nun in rein ethnischer Be- ziehung, oder in religiös-sozialer, was unser Interesse für sie wärmer zu gestalten vermag; aber sogenannte "interessante Völker" gibt es ja nach dem bekannten diplomatischen Schlag- worte auch in der europäischen Türkei, in Anatolien und im Taurus, abgesehen von der Legion culturbedürftiger Völker, welche über die ganze Erdkugel verbreitet sind. Die Erfahrungen, welche zunächst Rußland mit den kaukasischen Bergvölkern gemacht hat, sind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein haben sie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung der Existenz des Gegners abgesehen hatte, sondern auf die Schaffung normaler, geordneter Zustände1. Die Freiheit, welche die Tscher- kessen, Tschetschenzen und Abchasen meinten, war immerdar die Du hörtest meines Herzens Beichte, (Uebers. v. A. Seubert, a. a. O., 30.)Nun reich zum Abschied mir die Hand. Leb wohl! Des Weibes Lieb ist seichte; Kurz trauert sie, zerriß ein Band. Die Liebe weicht der langen Weile. Dann schärft sie neue Liebespfeile! -- 1 Die Regierung verfolgte ihre rein praktischen Ziele mit eiserner
Consequenz. Anstatt die Eingeborenen mit Civilisations-Experimenten zu quälen, was dem Asiaten ebenso unerträglich wäre, als wenn man ihn zwingen wollte, seine kleidsame Tracht abzulegen und sich in europäische Kleider zu stecken, schonte man sorgfältig die Landessitten und Gebräuche. Anstatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und sich etwa damit befassen zu wollen, die Civilisation nach Osten zu tragen, beschränkte sich die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein- zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge- wahrt und die Administration lag allezeit zumeist in den Händen der Eingeborenen. Zugleich aber, und das ist das Wichtigste, verfolgte die Regierung den religiösen Ueberzeugungen gegenüber strengste Neutralität und läßt Jedermann nach seiner Art selig werden. Es ist also durchaus falsch, daß der russische Gewinn in Kaukasien nur eine beispiellose Ver- wüstung nationalen Lebens sei. (F. von Hellwald, "Die Erde und ihre Völker", II, 401.) Die kaukaſiſche Emigration. wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonſtrirten,daß alle poetiſchen Emanationen früherer Reiſender eitel Humbug ſeien. Es iſt nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des Kaukaſus Mancherlei anhaftet, ſei’s nun in rein ethniſcher Be- ziehung, oder in religiös-ſozialer, was unſer Intereſſe für ſie wärmer zu geſtalten vermag; aber ſogenannte „intereſſante Völker“ gibt es ja nach dem bekannten diplomatiſchen Schlag- worte auch in der europäiſchen Türkei, in Anatolien und im Taurus, abgeſehen von der Legion culturbedürftiger Völker, welche über die ganze Erdkugel verbreitet ſind. Die Erfahrungen, welche zunächſt Rußland mit den kaukaſiſchen Bergvölkern gemacht hat, ſind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein haben ſie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung der Exiſtenz des Gegners abgeſehen hatte, ſondern auf die Schaffung normaler, geordneter Zuſtände1. Die Freiheit, welche die Tſcher- keſſen, Tſchetſchenzen und Abchaſen meinten, war immerdar die Du hörteſt meines Herzens Beichte, (Ueberſ. v. A. Seubert, a. a. O., 30.)Nun reich zum Abſchied mir die Hand. Leb wohl! Des Weibes Lieb iſt ſeichte; Kurz trauert ſie, zerriß ein Band. Die Liebe weicht der langen Weile. Dann ſchärft ſie neue Liebespfeile! — 1 Die Regierung verfolgte ihre rein praktiſchen Ziele mit eiſerner
Conſequenz. Anſtatt die Eingeborenen mit Civiliſations-Experimenten zu quälen, was dem Aſiaten ebenſo unerträglich wäre, als wenn man ihn zwingen wollte, ſeine kleidſame Tracht abzulegen und ſich in europäiſche Kleider zu ſtecken, ſchonte man ſorgfältig die Landesſitten und Gebräuche. Anſtatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und ſich etwa damit befaſſen zu wollen, die Civiliſation nach Oſten zu tragen, beſchränkte ſich die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein- zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge- wahrt und die Adminiſtration lag allezeit zumeiſt in den Händen der Eingeborenen. Zugleich aber, und das iſt das Wichtigſte, verfolgte die Regierung den religiöſen Ueberzeugungen gegenüber ſtrengſte Neutralität und läßt Jedermann nach ſeiner Art ſelig werden. Es iſt alſo durchaus falſch, daß der ruſſiſche Gewinn in Kaukaſien nur eine beiſpielloſe Ver- wüſtung nationalen Lebens ſei. (F. von Hellwald, „Die Erde und ihre Völker“, II, 401.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0111" n="79"/><fw place="top" type="header">Die kaukaſiſche Emigration.</fw><lb/> wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonſtrirten,<lb/> daß alle poetiſchen Emanationen früherer Reiſender eitel Humbug<lb/> ſeien. Es iſt nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des<lb/> Kaukaſus Mancherlei anhaftet, ſei’s nun in rein ethniſcher Be-<lb/> ziehung, oder in religiös-ſozialer, was unſer Intereſſe für ſie<lb/> wärmer zu geſtalten vermag; aber ſogenannte „intereſſante<lb/> Völker“ gibt es ja nach dem bekannten diplomatiſchen Schlag-<lb/> worte auch in der europäiſchen Türkei, in Anatolien und im<lb/> Taurus, abgeſehen von der Legion culturbedürftiger Völker,<lb/> welche über die ganze Erdkugel verbreitet ſind. Die Erfahrungen,<lb/> welche zunächſt Rußland mit den kaukaſiſchen Bergvölkern gemacht<lb/> hat, ſind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein<lb/> haben ſie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der<lb/> Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung<lb/> der Exiſtenz des Gegners abgeſehen hatte, ſondern auf die Schaffung<lb/> normaler, geordneter Zuſtände<note place="foot" n="1">Die Regierung verfolgte ihre rein praktiſchen Ziele mit eiſerner<lb/> Conſequenz. Anſtatt die Eingeborenen mit Civiliſations-Experimenten zu<lb/> quälen, was dem Aſiaten ebenſo unerträglich wäre, als wenn man ihn<lb/> zwingen wollte, ſeine kleidſame Tracht abzulegen und ſich in europäiſche<lb/> Kleider zu ſtecken, ſchonte man ſorgfältig die Landesſitten und Gebräuche.<lb/> Anſtatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und ſich etwa damit<lb/> befaſſen zu wollen, die Civiliſation nach Oſten zu tragen, beſchränkte ſich<lb/> die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein-<lb/> zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge-<lb/> wahrt und die Adminiſtration lag allezeit zumeiſt in den Händen der<lb/> Eingeborenen. Zugleich aber, und das iſt das Wichtigſte, verfolgte die<lb/> Regierung den religiöſen Ueberzeugungen gegenüber ſtrengſte Neutralität<lb/> und läßt Jedermann nach ſeiner Art ſelig werden. Es iſt alſo durchaus<lb/> falſch, daß der ruſſiſche Gewinn in Kaukaſien nur eine beiſpielloſe Ver-<lb/> wüſtung nationalen Lebens ſei. (F. von Hellwald, „Die Erde und ihre<lb/> Völker“, <hi rendition="#aq">II</hi>, 401.)</note>. Die Freiheit, welche die Tſcher-<lb/> keſſen, Tſchetſchenzen und Abchaſen meinten, war immerdar die<lb/><note xml:id="note01part02" prev="#note01part01" place="foot" n="1"><lg type="poem"><l>Du hörteſt meines Herzens Beichte,</l><lb/><l>Nun reich zum Abſchied mir die Hand.</l><lb/><l>Leb wohl! Des Weibes Lieb iſt ſeichte;</l><lb/><l>Kurz trauert ſie, zerriß ein Band.</l><lb/><l>Die Liebe weicht der langen Weile.</l><lb/><l>Dann ſchärft ſie neue Liebespfeile! —</l></lg><lb/><hi rendition="#et">(Ueberſ. v. A. Seubert, a. a. O., 30.)</hi></note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [79/0111]
Die kaukaſiſche Emigration.
wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonſtrirten,
daß alle poetiſchen Emanationen früherer Reiſender eitel Humbug
ſeien. Es iſt nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des
Kaukaſus Mancherlei anhaftet, ſei’s nun in rein ethniſcher Be-
ziehung, oder in religiös-ſozialer, was unſer Intereſſe für ſie
wärmer zu geſtalten vermag; aber ſogenannte „intereſſante
Völker“ gibt es ja nach dem bekannten diplomatiſchen Schlag-
worte auch in der europäiſchen Türkei, in Anatolien und im
Taurus, abgeſehen von der Legion culturbedürftiger Völker,
welche über die ganze Erdkugel verbreitet ſind. Die Erfahrungen,
welche zunächſt Rußland mit den kaukaſiſchen Bergvölkern gemacht
hat, ſind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein
haben ſie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der
Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung
der Exiſtenz des Gegners abgeſehen hatte, ſondern auf die Schaffung
normaler, geordneter Zuſtände 1. Die Freiheit, welche die Tſcher-
keſſen, Tſchetſchenzen und Abchaſen meinten, war immerdar die
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1 Die Regierung verfolgte ihre rein praktiſchen Ziele mit eiſerner
Conſequenz. Anſtatt die Eingeborenen mit Civiliſations-Experimenten zu
quälen, was dem Aſiaten ebenſo unerträglich wäre, als wenn man ihn
zwingen wollte, ſeine kleidſame Tracht abzulegen und ſich in europäiſche
Kleider zu ſtecken, ſchonte man ſorgfältig die Landesſitten und Gebräuche.
Anſtatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und ſich etwa damit
befaſſen zu wollen, die Civiliſation nach Oſten zu tragen, beſchränkte ſich
die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein-
zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge-
wahrt und die Adminiſtration lag allezeit zumeiſt in den Händen der
Eingeborenen. Zugleich aber, und das iſt das Wichtigſte, verfolgte die
Regierung den religiöſen Ueberzeugungen gegenüber ſtrengſte Neutralität
und läßt Jedermann nach ſeiner Art ſelig werden. Es iſt alſo durchaus
falſch, daß der ruſſiſche Gewinn in Kaukaſien nur eine beiſpielloſe Ver-
wüſtung nationalen Lebens ſei. (F. von Hellwald, „Die Erde und ihre
Völker“, II, 401.)
1 Du hörteſt meines Herzens Beichte,
Nun reich zum Abſchied mir die Hand.
Leb wohl! Des Weibes Lieb iſt ſeichte;
Kurz trauert ſie, zerriß ein Band.
Die Liebe weicht der langen Weile.
Dann ſchärft ſie neue Liebespfeile! —
(Ueberſ. v. A. Seubert, a. a. O., 30.)
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