euch mein Vater beleidigt, wann habe ich selbst euch Schaden zugefügt, dessen Ersatz ihr von mir zu nehmen berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten Schmerz auf die Seele!"
So sprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und warf zornig seinen Scepter auf die Erde. Die Freier saßen schweigend umher und keiner, ausser Antinous, dem Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort auf seine Rede zu erwiedern. Dieser aber erhub sich und rief laut: "Trotziger Jüngling, welche Schmähung erlaubst du dich gegen uns? Nicht die Freier haben alles das verschuldet, sondern deine eigene Mutter, die ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, sind dahin, und immer noch spottet sie des Wunsches des Achajer. Allen verheißt sie Gunst, bald diesem bald jenem Manne sendet sie Botschaft zu; aber im Herzen denkt sie ganz anders. Wohl durchschauen wir ihre List. In ihrer Kam¬ mer hat sie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬ sammlung der Freier hat sie gesprochen: Ihr Jünglinge, wartet mit der Entscheidung und der Hochzeit nur so lange, bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬ einst stirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬ gesehene Mann als Leiche nicht festlich eingekleidet da läge! Mit diesem frommen Vorwande gewann sie unsere Herzen. Nun saß sie auch wirklich den Tag über da, und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber beim Kerzenlichte, da trennte sie heimlich Alles wieder auf, was sie am Tage gewoben hatte. So entging sie unsern Aufforderungen drei Jahre lang und täuschte edle Griechensöhne. Eine der Dienerinnen, welche sie Nachts
euch mein Vater beleidigt, wann habe ich ſelbſt euch Schaden zugefügt, deſſen Erſatz ihr von mir zu nehmen berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten Schmerz auf die Seele!“
So ſprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und warf zornig ſeinen Scepter auf die Erde. Die Freier ſaßen ſchweigend umher und keiner, auſſer Antinous, dem Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort auf ſeine Rede zu erwiedern. Dieſer aber erhub ſich und rief laut: „Trotziger Jüngling, welche Schmähung erlaubſt du dich gegen uns? Nicht die Freier haben alles das verſchuldet, ſondern deine eigene Mutter, die ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, ſind dahin, und immer noch ſpottet ſie des Wunſches des Achajer. Allen verheißt ſie Gunſt, bald dieſem bald jenem Manne ſendet ſie Botſchaft zu; aber im Herzen denkt ſie ganz anders. Wohl durchſchauen wir ihre Liſt. In ihrer Kam¬ mer hat ſie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬ ſammlung der Freier hat ſie geſprochen: Ihr Jünglinge, wartet mit der Entſcheidung und der Hochzeit nur ſo lange, bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬ einſt ſtirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬ geſehene Mann als Leiche nicht feſtlich eingekleidet da läge! Mit dieſem frommen Vorwande gewann ſie unſere Herzen. Nun ſaß ſie auch wirklich den Tag über da, und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber beim Kerzenlichte, da trennte ſie heimlich Alles wieder auf, was ſie am Tage gewoben hatte. So entging ſie unſern Aufforderungen drei Jahre lang und täuſchte edle Griechenſöhne. Eine der Dienerinnen, welche ſie Nachts
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0098"n="76"/>
euch mein Vater beleidigt, wann habe ich ſelbſt euch<lb/>
Schaden zugefügt, deſſen Erſatz ihr von mir zu nehmen<lb/>
berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten<lb/>
Schmerz auf die Seele!“</p><lb/><p>So ſprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und<lb/>
warf zornig ſeinen Scepter auf die Erde. Die Freier<lb/>ſaßen ſchweigend umher und keiner, auſſer Antinous, dem<lb/>
Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort<lb/>
auf ſeine Rede zu erwiedern. Dieſer aber erhub ſich<lb/>
und rief laut: „Trotziger Jüngling, welche Schmähung<lb/>
erlaubſt du dich gegen uns? Nicht die Freier haben<lb/>
alles das verſchuldet, ſondern deine eigene Mutter, die<lb/>
ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, ſind dahin,<lb/>
und immer noch ſpottet ſie des Wunſches des Achajer.<lb/>
Allen verheißt ſie Gunſt, bald dieſem bald jenem Manne<lb/>ſendet ſie Botſchaft zu; aber im Herzen denkt ſie ganz<lb/>
anders. Wohl durchſchauen wir ihre Liſt. In ihrer Kam¬<lb/>
mer hat ſie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬<lb/>ſammlung der Freier hat ſie geſprochen: Ihr Jünglinge,<lb/>
wartet mit der Entſcheidung und der Hochzeit nur ſo lange,<lb/>
bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten<lb/>
Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬<lb/>
einſt ſtirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬<lb/>
geſehene Mann als Leiche nicht feſtlich eingekleidet da<lb/>
läge! Mit dieſem frommen Vorwande gewann ſie unſere<lb/>
Herzen. Nun ſaß ſie auch wirklich den Tag über da,<lb/>
und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber<lb/>
beim Kerzenlichte, da trennte ſie heimlich Alles wieder<lb/>
auf, was ſie am Tage gewoben hatte. So entging ſie<lb/>
unſern Aufforderungen drei Jahre lang und täuſchte edle<lb/>
Griechenſöhne. Eine der Dienerinnen, welche ſie Nachts<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[76/0098]
euch mein Vater beleidigt, wann habe ich ſelbſt euch
Schaden zugefügt, deſſen Erſatz ihr von mir zu nehmen
berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten
Schmerz auf die Seele!“
So ſprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und
warf zornig ſeinen Scepter auf die Erde. Die Freier
ſaßen ſchweigend umher und keiner, auſſer Antinous, dem
Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort
auf ſeine Rede zu erwiedern. Dieſer aber erhub ſich
und rief laut: „Trotziger Jüngling, welche Schmähung
erlaubſt du dich gegen uns? Nicht die Freier haben
alles das verſchuldet, ſondern deine eigene Mutter, die
ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, ſind dahin,
und immer noch ſpottet ſie des Wunſches des Achajer.
Allen verheißt ſie Gunſt, bald dieſem bald jenem Manne
ſendet ſie Botſchaft zu; aber im Herzen denkt ſie ganz
anders. Wohl durchſchauen wir ihre Liſt. In ihrer Kam¬
mer hat ſie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬
ſammlung der Freier hat ſie geſprochen: Ihr Jünglinge,
wartet mit der Entſcheidung und der Hochzeit nur ſo lange,
bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten
Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬
einſt ſtirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬
geſehene Mann als Leiche nicht feſtlich eingekleidet da
läge! Mit dieſem frommen Vorwande gewann ſie unſere
Herzen. Nun ſaß ſie auch wirklich den Tag über da,
und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber
beim Kerzenlichte, da trennte ſie heimlich Alles wieder
auf, was ſie am Tage gewoben hatte. So entging ſie
unſern Aufforderungen drei Jahre lang und täuſchte edle
Griechenſöhne. Eine der Dienerinnen, welche ſie Nachts
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/98>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.