noch des Vaters Geschäfte zu Hause betrieben, sich in der Volksversammlung und sprach: "Seit Odysseus fort ist, sind wir nicht versammelt gewesen. Wem ist denn auf einmal eingefallen, uns zusammen zu berufen? Ist es ein älterer Mann, oder ein jüngerer, und welches Bedürfniß treibt ihn? Hörte er etwa Kunde von einem heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag zum Besten des Landes zu machen? Nun, gewiß ist es ein Biedermann, der also gehandelt hat; Jupiter segne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!"
Telemach erfreute sich des glücklichen Vorzeichens, das in diesen Worten lag, erhub sich von seinem Stuhle und sprach, mitten unter die Versammlung eintretend, nach¬ dem der Herold Pisenor ihm das Scepter gereicht, in¬ dem er sich zuerst dem greisen Aegyptius zuwandte: "Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, ist nicht ferne: ich bins, denn der Kummer und die Sorge bedrängen mich. Erst habe ich meinen trefflichen Vater, euren Beherrscher, verloren, und jetzt stürzt mein Haus ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer! Mit unerwünschter Bewerbung sieht sich meine Mutter Penelope von Freiern umdrängt. Diese sträuben sich, meinem Vorschlage sich zu fügen und bei der Mutter Vater Ikarion um die Tochter zu werben. Nein, von Tag zu Tage wenden sie sich an unser Haus, opfern Rinder zum Mahle, halten bei unsern Schafen und Zie¬ gen Schmaus, und trinken mir den funkelnden Wein ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen so viele? Erkennet doch selbst, ihr Freier, euer Unrecht, habt auch Scheu vor Andern, vor der Nachbarschaft, bebet endlich vor der Rache der Götter! Wann hat
noch des Vaters Geſchäfte zu Hauſe betrieben, ſich in der Volksverſammlung und ſprach: „Seit Odyſſeus fort iſt, ſind wir nicht verſammelt geweſen. Wem iſt denn auf einmal eingefallen, uns zuſammen zu berufen? Iſt es ein älterer Mann, oder ein jüngerer, und welches Bedürfniß treibt ihn? Hörte er etwa Kunde von einem heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag zum Beſten des Landes zu machen? Nun, gewiß iſt es ein Biedermann, der alſo gehandelt hat; Jupiter ſegne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!“
Telemach erfreute ſich des glücklichen Vorzeichens, das in dieſen Worten lag, erhub ſich von ſeinem Stuhle und ſprach, mitten unter die Verſammlung eintretend, nach¬ dem der Herold Piſenor ihm das Scepter gereicht, in¬ dem er ſich zuerſt dem greiſen Aegyptius zuwandte: „Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, iſt nicht ferne: ich bins, denn der Kummer und die Sorge bedrängen mich. Erſt habe ich meinen trefflichen Vater, euren Beherrſcher, verloren, und jetzt ſtürzt mein Haus ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer! Mit unerwünſchter Bewerbung ſieht ſich meine Mutter Penelope von Freiern umdrängt. Dieſe ſträuben ſich, meinem Vorſchlage ſich zu fügen und bei der Mutter Vater Ikarion um die Tochter zu werben. Nein, von Tag zu Tage wenden ſie ſich an unſer Haus, opfern Rinder zum Mahle, halten bei unſern Schafen und Zie¬ gen Schmaus, und trinken mir den funkelnden Wein ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen ſo viele? Erkennet doch ſelbſt, ihr Freier, euer Unrecht, habt auch Scheu vor Andern, vor der Nachbarſchaft, bebet endlich vor der Rache der Götter! Wann hat
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noch des Vaters Geſchäfte zu Hauſe betrieben, ſich in
der Volksverſammlung und ſprach: „Seit Odyſſeus fort
iſt, ſind wir nicht verſammelt geweſen. Wem iſt denn
auf einmal eingefallen, uns zuſammen zu berufen? Iſt
es ein älterer Mann, oder ein jüngerer, und welches
Bedürfniß treibt ihn? Hörte er etwa Kunde von einem
heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag
zum Beſten des Landes zu machen? Nun, gewiß iſt
es ein Biedermann, der alſo gehandelt hat; Jupiter
ſegne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!“
Telemach erfreute ſich des glücklichen Vorzeichens, das
in dieſen Worten lag, erhub ſich von ſeinem Stuhle und
ſprach, mitten unter die Verſammlung eintretend, nach¬
dem der Herold Piſenor ihm das Scepter gereicht, in¬
dem er ſich zuerſt dem greiſen Aegyptius zuwandte:
„Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, iſt
nicht ferne: ich bins, denn der Kummer und die Sorge
bedrängen mich. Erſt habe ich meinen trefflichen Vater,
euren Beherrſcher, verloren, und jetzt ſtürzt mein Haus
ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer!
Mit unerwünſchter Bewerbung ſieht ſich meine Mutter
Penelope von Freiern umdrängt. Dieſe ſträuben ſich,
meinem Vorſchlage ſich zu fügen und bei der Mutter
Vater Ikarion um die Tochter zu werben. Nein, von
Tag zu Tage wenden ſie ſich an unſer Haus, opfern
Rinder zum Mahle, halten bei unſern Schafen und Zie¬
gen Schmaus, und trinken mir den funkelnden Wein
ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen
ſo viele? Erkennet doch ſelbſt, ihr Freier, euer Unrecht,
habt auch Scheu vor Andern, vor der Nachbarſchaft,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/97>, abgerufen am 22.11.2024.
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