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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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selbst verlangtest ja durch das Orakel deines Bruders
Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir, mich,
deine Priesterin, dorthin, und vergieb mir den kühnen
Betrug, den ich mir gegen den Beherrscher dieses Landes
erlaubt habe, dem ich gezwungen so lange dienen mußte.
Du selbst ja hast auch einen Bruder und liebst ihn, du
Himmlische! drum sich auch unsere Geschwisterliebe
gnädig an!" Zu diesem Gebete der Jungfrau stimmten,
die entblößten Arme ums Ruder geschlungen, die Schiffer
alle den stehenden Gesang, Päan genannt, an, wie ihnen
befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr
an den Strand, und ich bin geradenweges hierher geeilt,
um dir zu melden, was sich am Ufer dort begeben.
Darum sende du nur auf der Stelle Fangstricke und
Fesseln ans Gestade; denn wenn das brausende Meer
nicht bald ruhig wird, so ist den Fremdlingen jeder Weg
zur Flucht versperrt. Der Meeresgott Poseidon (Neptun)
denkt mit Zorn an die Zerstörung seiner Lieblingsstadt
Troja zurück; er ist ein Feind aller Griechen und des
Atridengeschlechts insbesondere. So wird er denn, wenn
mich nicht Alles trügt, die Kinder Agamemnons heute
in deine Gewalt geben!"

Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende
des langen Berichtes abgewartet, und ließ nun auf der
Stelle an alle Bewohner seines rauhen Küstenlandes den
Befehl ergehen, die Rosse aufzuzäumen, dem Meeres¬
strande zuzusprengen, das Griechenschiff, wenn es durch
die Wellen ans Land geschleudert wäre, zu fassen und
unter dem Beistande der Göttin Artemis die flüchtigen
Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug sollte mit allen
Ruderern versenkt werden, die beiden Fremdlinge aber

ſelbſt verlangteſt ja durch das Orakel deines Bruders
Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir, mich,
deine Prieſterin, dorthin, und vergieb mir den kühnen
Betrug, den ich mir gegen den Beherrſcher dieſes Landes
erlaubt habe, dem ich gezwungen ſo lange dienen mußte.
Du ſelbſt ja haſt auch einen Bruder und liebſt ihn, du
Himmliſche! drum ſich auch unſere Geſchwiſterliebe
gnädig an!“ Zu dieſem Gebete der Jungfrau ſtimmten,
die entblößten Arme ums Ruder geſchlungen, die Schiffer
alle den ſtehenden Geſang, Päan genannt, an, wie ihnen
befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr
an den Strand, und ich bin geradenweges hierher geeilt,
um dir zu melden, was ſich am Ufer dort begeben.
Darum ſende du nur auf der Stelle Fangſtricke und
Feſſeln ans Geſtade; denn wenn das brauſende Meer
nicht bald ruhig wird, ſo iſt den Fremdlingen jeder Weg
zur Flucht verſperrt. Der Meeresgott Poſeidon (Neptun)
denkt mit Zorn an die Zerſtörung ſeiner Lieblingsſtadt
Troja zurück; er iſt ein Feind aller Griechen und des
Atridengeſchlechts insbeſondere. So wird er denn, wenn
mich nicht Alles trügt, die Kinder Agamemnons heute
in deine Gewalt geben!“

Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende
des langen Berichtes abgewartet, und ließ nun auf der
Stelle an alle Bewohner ſeines rauhen Küſtenlandes den
Befehl ergehen, die Roſſe aufzuzäumen, dem Meeres¬
ſtrande zuzuſprengen, das Griechenſchiff, wenn es durch
die Wellen ans Land geſchleudert wäre, zu faſſen und
unter dem Beiſtande der Göttin Artemis die flüchtigen
Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug ſollte mit allen
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[61/0083] ſelbſt verlangteſt ja durch das Orakel deines Bruders Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir, mich, deine Prieſterin, dorthin, und vergieb mir den kühnen Betrug, den ich mir gegen den Beherrſcher dieſes Landes erlaubt habe, dem ich gezwungen ſo lange dienen mußte. Du ſelbſt ja haſt auch einen Bruder und liebſt ihn, du Himmliſche! drum ſich auch unſere Geſchwiſterliebe gnädig an!“ Zu dieſem Gebete der Jungfrau ſtimmten, die entblößten Arme ums Ruder geſchlungen, die Schiffer alle den ſtehenden Geſang, Päan genannt, an, wie ihnen befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr an den Strand, und ich bin geradenweges hierher geeilt, um dir zu melden, was ſich am Ufer dort begeben. Darum ſende du nur auf der Stelle Fangſtricke und Feſſeln ans Geſtade; denn wenn das brauſende Meer nicht bald ruhig wird, ſo iſt den Fremdlingen jeder Weg zur Flucht verſperrt. Der Meeresgott Poſeidon (Neptun) denkt mit Zorn an die Zerſtörung ſeiner Lieblingsſtadt Troja zurück; er iſt ein Feind aller Griechen und des Atridengeſchlechts insbeſondere. So wird er denn, wenn mich nicht Alles trügt, die Kinder Agamemnons heute in deine Gewalt geben!“ Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende des langen Berichtes abgewartet, und ließ nun auf der Stelle an alle Bewohner ſeines rauhen Küſtenlandes den Befehl ergehen, die Roſſe aufzuzäumen, dem Meeres¬ ſtrande zuzuſprengen, das Griechenſchiff, wenn es durch die Wellen ans Land geſchleudert wäre, zu faſſen und unter dem Beiſtande der Göttin Artemis die flüchtigen Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug ſollte mit allen Ruderern verſenkt werden, die beiden Fremdlinge aber

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/83>, abgerufen am 24.11.2024.