ich, um die Heimath mir zu gewinnen, hätte dich ver¬ rathen, dich getödtet, dir nach dem Reich, nach dem Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager bin und um deine Schwester Elektra ohne Mitgift gefreit habe. Jedenfalls also will ich, muß ich mit dir sterben!" Orestes wollte nichts von diesem Entschlusse hören, und noch stritten sie, als Iphigenia, das beschriebene Blatt in der Hand, zurückkehrte. Als sie den Empfänger Py¬ lades schwören lassen, daß er den Brief gewiß den Ih¬ rigen abliefern wolle und dagegen geschworen, ihn zu retten, besann sich die Jungfrau, und, auf den Fall, daß das Schreiben durch irgend einen Unglücksfall von der See verschlungen würde, während der Ueberbringer mit dem Leben davonkäme, wollte sie ihm den Inhalt überdieß auch noch mündlich mittheilen, "Melde," sprach sie, "dem Orestes, dem Sohne des Agamemnon: Iphi¬ genia, die in Aulis vom Opferheerde entrückt wurde, lebt, und bestellet an dich, was folgt." -- "Was höre ich," fiel ihr Orestes ins Wort, "wo ist sie? steht sie von den Todten auf?" -- "Hier steht sie," sagte die Priesterin, "doch, störe mich nicht!" -- ""Lieber Bruder Orestes! ehe ich sterbe, hole mich aus der fernen Bar¬ barei nach Argos; erlöse mich vom Opferheerd, an dem ich im Dienste der Göttin die Fremdlinge morden muß. Thust du es nicht, Orestes, so seyen du und dein Haus verflucht!""
Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet und ihm den Brief überreichend, ausrief: "Ja, ich will den Eid auf der Stelle halten, den ich geleistet. Da nimm,
ich, um die Heimath mir zu gewinnen, hätte dich ver¬ rathen, dich getödtet, dir nach dem Reich, nach dem Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager bin und um deine Schweſter Elektra ohne Mitgift gefreit habe. Jedenfalls alſo will ich, muß ich mit dir ſterben!“ Oreſtes wollte nichts von dieſem Entſchluſſe hören, und noch ſtritten ſie, als Iphigenia, das beſchriebene Blatt in der Hand, zurückkehrte. Als ſie den Empfänger Py¬ lades ſchwören laſſen, daß er den Brief gewiß den Ih¬ rigen abliefern wolle und dagegen geſchworen, ihn zu retten, beſann ſich die Jungfrau, und, auf den Fall, daß das Schreiben durch irgend einen Unglücksfall von der See verſchlungen würde, während der Ueberbringer mit dem Leben davonkäme, wollte ſie ihm den Inhalt überdieß auch noch mündlich mittheilen, „Melde,“ ſprach ſie, „dem Oreſtes, dem Sohne des Agamemnon: Iphi¬ genia, die in Aulis vom Opferheerde entrückt wurde, lebt, und beſtellet an dich, was folgt.“ — „Was höre ich,“ fiel ihr Oreſtes ins Wort, „wo iſt ſie? ſteht ſie von den Todten auf?“ — „Hier ſteht ſie,“ ſagte die Prieſterin, „doch, ſtöre mich nicht!“ — „„Lieber Bruder Oreſtes! ehe ich ſterbe, hole mich aus der fernen Bar¬ barei nach Argos; erlöſe mich vom Opferheerd, an dem ich im Dienſte der Göttin die Fremdlinge morden muß. Thuſt du es nicht, Oreſtes, ſo ſeyen du und dein Haus verflucht!““
Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet und ihm den Brief überreichend, ausrief: „Ja, ich will den Eid auf der Stelle halten, den ich geleiſtet. Da nimm,
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ich, um die Heimath mir zu gewinnen, hätte dich ver¬
rathen, dich getödtet, dir nach dem Reich, nach dem
Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager
bin und um deine Schweſter Elektra ohne Mitgift gefreit
habe. Jedenfalls alſo will ich, muß ich mit dir ſterben!“
Oreſtes wollte nichts von dieſem Entſchluſſe hören, und
noch ſtritten ſie, als Iphigenia, das beſchriebene Blatt
in der Hand, zurückkehrte. Als ſie den Empfänger Py¬
lades ſchwören laſſen, daß er den Brief gewiß den Ih¬
rigen abliefern wolle und dagegen geſchworen, ihn zu
retten, beſann ſich die Jungfrau, und, auf den Fall,
daß das Schreiben durch irgend einen Unglücksfall von
der See verſchlungen würde, während der Ueberbringer
mit dem Leben davonkäme, wollte ſie ihm den Inhalt
überdieß auch noch mündlich mittheilen, „Melde,“ ſprach
ſie, „dem Oreſtes, dem Sohne des Agamemnon: Iphi¬
genia, die in Aulis vom Opferheerde entrückt wurde,
lebt, und beſtellet an dich, was folgt.“ — „Was höre
ich,“ fiel ihr Oreſtes ins Wort, „wo iſt ſie? ſteht ſie
von den Todten auf?“ — „Hier ſteht ſie,“ ſagte die
Prieſterin, „doch, ſtöre mich nicht!“ — „„Lieber Bruder
Oreſtes! ehe ich ſterbe, hole mich aus der fernen Bar¬
barei nach Argos; erlöſe mich vom Opferheerd, an dem
ich im Dienſte der Göttin die Fremdlinge morden muß.
Thuſt du es nicht, Oreſtes, ſo ſeyen du und dein Haus
verflucht!““
Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen
keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus
ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet und
ihm den Brief überreichend, ausrief: „Ja, ich will den
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/76>, abgerufen am 28.11.2024.
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