Menschengestalt, aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt, von blondem Haupthaar umwachsen, und dieses fing an in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch der Jungfrau entfallen war, als sie wieder erwachte. Im Traum aber geschah es noch, daß sie, ihrem Frem¬ denmord befehlenden Amte getreu, den Menschen, der ein Pfeiler ihres Vaterhauses gewesen war, als zum Tode bestimmt, mit dem Weihwasser besprengte, und dazu bitterlich weinen mußte, bis sie der Traum verließ.
Am Morgen, der auf dieselbe Nacht folgte, war Orestes mit seinem Freunde Pylades am taurischen Ufer¬ strande ans Land gestiegen und beide schritten auf den Tempel der Artemis zu. Bald standen sie vor dem Bar¬ barengebäude, das eher einem Zwinger, denn einem Götterhause glich, und blickten staunend an dem hohen Mauerringe empor. Endlich brach Orestes das Schwei¬ gen. "Du treuer Freund," sprach er, "der auch dieses Weges Gefahr mit mir getheilt hat, was fangen wir an? Wollen wir den Treppenkranz, der sich um den Tempel schlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben sind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht eherne Schlösser uns den Zugang zu den Gemächern verschließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß suchen, indem wir öffnen, an dem Thore von den Wachen, die ohne Zweifel bei dem Heiligthum aufgestellt sind, erhascht, so sind wir des Todes. Denn das wissen wir ja, daß Griechenmord den Altar dieser unerbittlichen, Göttin unaufhörlich bespritzt! darum, wäre es nicht ge¬ rathener, zu dem Schiffe zurückzukehren, dessen Segel uns hierher gebracht hat?"
Menſchengeſtalt, aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt, von blondem Haupthaar umwachſen, und dieſes fing an in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch der Jungfrau entfallen war, als ſie wieder erwachte. Im Traum aber geſchah es noch, daß ſie, ihrem Frem¬ denmord befehlenden Amte getreu, den Menſchen, der ein Pfeiler ihres Vaterhauſes geweſen war, als zum Tode beſtimmt, mit dem Weihwaſſer beſprengte, und dazu bitterlich weinen mußte, bis ſie der Traum verließ.
Am Morgen, der auf dieſelbe Nacht folgte, war Oreſtes mit ſeinem Freunde Pylades am tauriſchen Ufer¬ ſtrande ans Land geſtiegen und beide ſchritten auf den Tempel der Artemis zu. Bald ſtanden ſie vor dem Bar¬ barengebäude, das eher einem Zwinger, denn einem Götterhauſe glich, und blickten ſtaunend an dem hohen Mauerringe empor. Endlich brach Oreſtes das Schwei¬ gen. „Du treuer Freund,“ ſprach er, „der auch dieſes Weges Gefahr mit mir getheilt hat, was fangen wir an? Wollen wir den Treppenkranz, der ſich um den Tempel ſchlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben ſind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht eherne Schlöſſer uns den Zugang zu den Gemächern verſchließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß ſuchen, indem wir öffnen, an dem Thore von den Wachen, die ohne Zweifel bei dem Heiligthum aufgeſtellt ſind, erhaſcht, ſo ſind wir des Todes. Denn das wiſſen wir ja, daß Griechenmord den Altar dieſer unerbittlichen, Göttin unaufhörlich beſpritzt! darum, wäre es nicht ge¬ rathener, zu dem Schiffe zurückzukehren, deſſen Segel uns hierher gebracht hat?“
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Menſchengeſtalt, aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt,
von blondem Haupthaar umwachſen, und dieſes fing an
in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch
der Jungfrau entfallen war, als ſie wieder erwachte.
Im Traum aber geſchah es noch, daß ſie, ihrem Frem¬
denmord befehlenden Amte getreu, den Menſchen, der
ein Pfeiler ihres Vaterhauſes geweſen war, als zum
Tode beſtimmt, mit dem Weihwaſſer beſprengte, und
dazu bitterlich weinen mußte, bis ſie der Traum verließ.
Am Morgen, der auf dieſelbe Nacht folgte, war
Oreſtes mit ſeinem Freunde Pylades am tauriſchen Ufer¬
ſtrande ans Land geſtiegen und beide ſchritten auf den
Tempel der Artemis zu. Bald ſtanden ſie vor dem Bar¬
barengebäude, das eher einem Zwinger, denn einem
Götterhauſe glich, und blickten ſtaunend an dem hohen
Mauerringe empor. Endlich brach Oreſtes das Schwei¬
gen. „Du treuer Freund,“ ſprach er, „der auch dieſes
Weges Gefahr mit mir getheilt hat, was fangen wir
an? Wollen wir den Treppenkranz, der ſich um den
Tempel ſchlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben
ſind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie
in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht
eherne Schlöſſer uns den Zugang zu den Gemächern
verſchließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß ſuchen,
indem wir öffnen, an dem Thore von den Wachen,
die ohne Zweifel bei dem Heiligthum aufgeſtellt ſind,
erhaſcht, ſo ſind wir des Todes. Denn das wiſſen
wir ja, daß Griechenmord den Altar dieſer unerbittlichen,
Göttin unaufhörlich beſpritzt! darum, wäre es nicht ge¬
rathener, zu dem Schiffe zurückzukehren, deſſen Segel
uns hierher gebracht hat?“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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