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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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für die Schuld, einen weißen für die Unschuld des
Beklagten, unter die Richter vertheilen, die Urne, in welche
die Steine zu legen waren, wurde in der Mitte des
umzäunten Platzes aufgestellt und ehe die Richter sich
zum Abstimmen anschickten, sprach die Göttin noch von
der erhöhten Stelle herab, auf welcher sie als Vorsitze¬
rin des Gerichtes ihren Thronsessel eingenommen hatte,
indem sie sich aus demselben erhob und in ihrer ganzen
himmlischen Hoheit dastand: "Höret diese Bestimmung
der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! jetzt
wo ihr den ersten Streit wegen vergossenen Blutes richtet!
Für alle Folgezeit soll dieser Gerichtshof in euren Mauern
bestehen. Hier auf diesem heiligen Marshügel, wo einst
im Amazonenkriege gegen Theseus die feindlichen Hel¬
dinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr
Opfer darbrachten, soll, nach dem Orte benannt, der
Areopag sein Blutgericht halten, und durch fromme
Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückschrecken. Aus
den heiligsten Männern der Stadt gebildet stifte ich ihn,
unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, streng, einen
wachsamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande.
Ihr alle Einwohner sollet seine Würde scheuen und ihn
schirmen als eine heilsame Stütze einer Stadt, wie kein
anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern
sie besitzt. Dieß sey für die Zukunft verordnet. Nun
aber, ihr Richter, erhebet euch, scheuet euren Eid, und
leget zur Entscheidung des Streites eure Stimmen in
die Urne nieder!"

Schweigend erhuben sich die Richter von den Sitzen
und traten einer um den andern an die Urne, und die
Stimmsteine rollten nach einander hinein. Als Alle

für die Schuld, einen weißen für die Unſchuld des
Beklagten, unter die Richter vertheilen, die Urne, in welche
die Steine zu legen waren, wurde in der Mitte des
umzäunten Platzes aufgeſtellt und ehe die Richter ſich
zum Abſtimmen anſchickten, ſprach die Göttin noch von
der erhöhten Stelle herab, auf welcher ſie als Vorſitze¬
rin des Gerichtes ihren Thronſeſſel eingenommen hatte,
indem ſie ſich aus demſelben erhob und in ihrer ganzen
himmliſchen Hoheit daſtand: „Höret dieſe Beſtimmung
der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! jetzt
wo ihr den erſten Streit wegen vergoſſenen Blutes richtet!
Für alle Folgezeit ſoll dieſer Gerichtshof in euren Mauern
beſtehen. Hier auf dieſem heiligen Marshügel, wo einſt
im Amazonenkriege gegen Theſeus die feindlichen Hel¬
dinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr
Opfer darbrachten, ſoll, nach dem Orte benannt, der
Areopag ſein Blutgericht halten, und durch fromme
Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückſchrecken. Aus
den heiligſten Männern der Stadt gebildet ſtifte ich ihn,
unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, ſtreng, einen
wachſamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande.
Ihr alle Einwohner ſollet ſeine Würde ſcheuen und ihn
ſchirmen als eine heilſame Stütze einer Stadt, wie kein
anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern
ſie beſitzt. Dieß ſey für die Zukunft verordnet. Nun
aber, ihr Richter, erhebet euch, ſcheuet euren Eid, und
leget zur Entſcheidung des Streites eure Stimmen in
die Urne nieder!“

Schweigend erhuben ſich die Richter von den Sitzen
und traten einer um den andern an die Urne, und die
Stimmſteine rollten nach einander hinein. Als Alle

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[39/0061] für die Schuld, einen weißen für die Unſchuld des Beklagten, unter die Richter vertheilen, die Urne, in welche die Steine zu legen waren, wurde in der Mitte des umzäunten Platzes aufgeſtellt und ehe die Richter ſich zum Abſtimmen anſchickten, ſprach die Göttin noch von der erhöhten Stelle herab, auf welcher ſie als Vorſitze¬ rin des Gerichtes ihren Thronſeſſel eingenommen hatte, indem ſie ſich aus demſelben erhob und in ihrer ganzen himmliſchen Hoheit daſtand: „Höret dieſe Beſtimmung der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! jetzt wo ihr den erſten Streit wegen vergoſſenen Blutes richtet! Für alle Folgezeit ſoll dieſer Gerichtshof in euren Mauern beſtehen. Hier auf dieſem heiligen Marshügel, wo einſt im Amazonenkriege gegen Theſeus die feindlichen Hel¬ dinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr Opfer darbrachten, ſoll, nach dem Orte benannt, der Areopag ſein Blutgericht halten, und durch fromme Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückſchrecken. Aus den heiligſten Männern der Stadt gebildet ſtifte ich ihn, unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, ſtreng, einen wachſamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande. Ihr alle Einwohner ſollet ſeine Würde ſcheuen und ihn ſchirmen als eine heilſame Stütze einer Stadt, wie kein anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern ſie beſitzt. Dieß ſey für die Zukunft verordnet. Nun aber, ihr Richter, erhebet euch, ſcheuet euren Eid, und leget zur Entſcheidung des Streites eure Stimmen in die Urne nieder!“ Schweigend erhuben ſich die Richter von den Sitzen und traten einer um den andern an die Urne, und die Stimmſteine rollten nach einander hinein. Als Alle

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/61>, abgerufen am 24.11.2024.