Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

himmlische Schwester Athene in ihrem Tempel versammelt
hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord
der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬
lige That, angerathen hat!"

Mit solchen Worten trat der Gott seinem Schützling
noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für
eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬
zubringen. "Wir werden kurz seyn," nahm die Aelteste
unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. "Angeklagter!
beantworte uns Frage um Frage: Hast du deine Mutter
umgebracht oder läugnest du's?" --"Ich läugne nicht,"
sprach Orestes, doch erblaßte er bei der Frage. -- "So
sprich, wie hast du's vollbracht?" -- "Ich habe ihr,"
antwortete der Angeklagte, "das Schwert in die Kehle
gebohrt." -- "Auf wessen Rath und Anstiften hast du es
gethan?" -- "Der hier neben mir steht," erwiederte
Orestes, "der Gott hat mirs durch einen Orakelspruch
befohlen; und er ist da, mir dieß zu bezeugen." Darauf
vertheidigte sich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter,
daß er in Klytämnestra nicht mehr die Mutter, sondern
nur die Mörderin des Vaters gesehen, und Apollo als
Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung
folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht stumm,
und wenn der Gott mit schwarzen Farben den Mord
des Gatten den Richtern vor Augen gestellt, so schilderten
sie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des
Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, sagte
die Sprecherin: "Jetzt haben wir alle unsre Pfeile aus
dem Köcher versendet; wir wollen ruhig erwarten, wie
die Richter urtheilen werden!"

Minerva hieß die Stimmsteine, jedem einen schwarzen

himmliſche Schweſter Athene in ihrem Tempel verſammelt
hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord
der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬
lige That, angerathen hat!“

Mit ſolchen Worten trat der Gott ſeinem Schützling
noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für
eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬
zubringen. „Wir werden kurz ſeyn,“ nahm die Aelteſte
unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. „Angeklagter!
beantworte uns Frage um Frage: Haſt du deine Mutter
umgebracht oder läugneſt du's?“ —„Ich läugne nicht,“
ſprach Oreſtes, doch erblaßte er bei der Frage. — „So
ſprich, wie haſt du's vollbracht?“ — „Ich habe ihr,“
antwortete der Angeklagte, „das Schwert in die Kehle
gebohrt.“ — „Auf weſſen Rath und Anſtiften haſt du es
gethan?“ — „Der hier neben mir ſteht,“ erwiederte
Oreſtes, „der Gott hat mirs durch einen Orakelſpruch
befohlen; und er iſt da, mir dieß zu bezeugen.“ Darauf
vertheidigte ſich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter,
daß er in Klytämneſtra nicht mehr die Mutter, ſondern
nur die Mörderin des Vaters geſehen, und Apollo als
Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung
folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht ſtumm,
und wenn der Gott mit ſchwarzen Farben den Mord
des Gatten den Richtern vor Augen geſtellt, ſo ſchilderten
ſie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des
Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, ſagte
die Sprecherin: „Jetzt haben wir alle unſre Pfeile aus
dem Köcher verſendet; wir wollen ruhig erwarten, wie
die Richter urtheilen werden!“

Minerva hieß die Stimmſteine, jedem einen ſchwarzen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0060" n="38"/>
himmli&#x017F;che Schwe&#x017F;ter Athene in ihrem Tempel ver&#x017F;ammelt<lb/>
hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord<lb/>
der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬<lb/>
lige That, angerathen hat!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Mit &#x017F;olchen Worten trat der Gott &#x017F;einem Schützling<lb/>
noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für<lb/>
eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬<lb/>
zubringen. &#x201E;Wir werden kurz &#x017F;eyn,&#x201C; nahm die Aelte&#x017F;te<lb/>
unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. &#x201E;Angeklagter!<lb/>
beantworte uns Frage um Frage: Ha&#x017F;t du deine Mutter<lb/>
umgebracht oder läugne&#x017F;t du's?&#x201C; &#x2014;&#x201E;Ich läugne nicht,&#x201C;<lb/>
&#x017F;prach Ore&#x017F;tes, doch erblaßte er bei der Frage. &#x2014; &#x201E;So<lb/>
&#x017F;prich, wie ha&#x017F;t du's vollbracht?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ich habe ihr,&#x201C;<lb/>
antwortete der Angeklagte, &#x201E;das Schwert in die Kehle<lb/>
gebohrt.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Auf we&#x017F;&#x017F;en Rath und An&#x017F;tiften ha&#x017F;t du es<lb/>
gethan?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Der hier neben mir &#x017F;teht,&#x201C; erwiederte<lb/>
Ore&#x017F;tes, &#x201E;der Gott hat mirs durch einen Orakel&#x017F;pruch<lb/>
befohlen; und er i&#x017F;t da, mir dieß zu bezeugen.&#x201C; Darauf<lb/>
vertheidigte &#x017F;ich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter,<lb/>
daß er in Klytämne&#x017F;tra nicht mehr die Mutter, &#x017F;ondern<lb/>
nur die Mörderin des Vaters ge&#x017F;ehen, und Apollo als<lb/>
Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung<lb/>
folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht &#x017F;tumm,<lb/>
und wenn der Gott mit &#x017F;chwarzen Farben den Mord<lb/>
des Gatten den Richtern vor Augen ge&#x017F;tellt, &#x017F;o &#x017F;childerten<lb/>
&#x017F;ie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des<lb/>
Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, &#x017F;agte<lb/>
die Sprecherin: &#x201E;Jetzt haben wir alle un&#x017F;re Pfeile aus<lb/>
dem Köcher ver&#x017F;endet; wir wollen ruhig erwarten, wie<lb/>
die Richter urtheilen werden!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Minerva hieß die Stimm&#x017F;teine, jedem einen &#x017F;chwarzen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0060] himmliſche Schweſter Athene in ihrem Tempel verſammelt hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬ lige That, angerathen hat!“ Mit ſolchen Worten trat der Gott ſeinem Schützling noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬ zubringen. „Wir werden kurz ſeyn,“ nahm die Aelteſte unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. „Angeklagter! beantworte uns Frage um Frage: Haſt du deine Mutter umgebracht oder läugneſt du's?“ —„Ich läugne nicht,“ ſprach Oreſtes, doch erblaßte er bei der Frage. — „So ſprich, wie haſt du's vollbracht?“ — „Ich habe ihr,“ antwortete der Angeklagte, „das Schwert in die Kehle gebohrt.“ — „Auf weſſen Rath und Anſtiften haſt du es gethan?“ — „Der hier neben mir ſteht,“ erwiederte Oreſtes, „der Gott hat mirs durch einen Orakelſpruch befohlen; und er iſt da, mir dieß zu bezeugen.“ Darauf vertheidigte ſich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter, daß er in Klytämneſtra nicht mehr die Mutter, ſondern nur die Mörderin des Vaters geſehen, und Apollo als Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht ſtumm, und wenn der Gott mit ſchwarzen Farben den Mord des Gatten den Richtern vor Augen geſtellt, ſo ſchilderten ſie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, ſagte die Sprecherin: „Jetzt haben wir alle unſre Pfeile aus dem Köcher verſendet; wir wollen ruhig erwarten, wie die Richter urtheilen werden!“ Minerva hieß die Stimmſteine, jedem einen ſchwarzen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/60
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/60>, abgerufen am 24.11.2024.