auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem ver¬ wundeten Rehbock, sind wir deinen Fußstapfen gefolgt, die von Blute triefen! Du sollst kein Asyl finden, Mut¬ termörder! dein rothes Blut wollen wir dir aus den Gliedern saugen, und dann das blasse Schattenbild mit uns hinunter in den Tartarus führen! Nicht Apollo's, nicht Athene's Gewalt soll dich von der ewigen Qual befreien! Mein Wild bist du, mir genährt, für meinen Altar bestimmt! Auf, Schwestern, laßt ihn uns mit unsrem Reigen umtanzen und seine beschwichtigte Seele durch unsre Gesänge zu neuem Wahnsinn aufregen!"
Und schon wollten sie ihr furchtbares Lied anstim¬ men, als plötzlich ein überirdisches Licht den Tempel durchleuchtete, die Bildsäule verschwunden war, und an ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene stand, mit ern¬ sten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die ihre Tempelhallen füllte, und den unsterblichen Mund zu der himmlischen Rede erschließend.
"Wer hat sich in mein Heiligthum gedrängt," sprach die Göttin, "während ich am Skamander von den Gebeten der abziehenden Griechen gerufen, das Beuteloos mir betrachte, das die frommen Söhne des Theseus opfernd mir dort hinterließen? Was für ungewohnte Gäste muß ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten Sterblichen ähnlich, haben sich in drohender Stellung hinter ihn geschaart. Redet, wer seyd ihr alle und was wollet ihr?"
Orestes, von Furcht und Zittern sprachlos, lag noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber standen unverzagt hinter ihm, und nahmen das Wort. "Jupiters
auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem ver¬ wundeten Rehbock, ſind wir deinen Fußſtapfen gefolgt, die von Blute triefen! Du ſollſt kein Aſyl finden, Mut¬ termörder! dein rothes Blut wollen wir dir aus den Gliedern ſaugen, und dann das blaſſe Schattenbild mit uns hinunter in den Tartarus führen! Nicht Apollo's, nicht Athene's Gewalt ſoll dich von der ewigen Qual befreien! Mein Wild biſt du, mir genährt, für meinen Altar beſtimmt! Auf, Schweſtern, laßt ihn uns mit unſrem Reigen umtanzen und ſeine beſchwichtigte Seele durch unſre Geſänge zu neuem Wahnſinn aufregen!“
Und ſchon wollten ſie ihr furchtbares Lied anſtim¬ men, als plötzlich ein überirdiſches Licht den Tempel durchleuchtete, die Bildſäule verſchwunden war, und an ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene ſtand, mit ern¬ ſten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die ihre Tempelhallen füllte, und den unſterblichen Mund zu der himmliſchen Rede erſchließend.
„Wer hat ſich in mein Heiligthum gedrängt,“ ſprach die Göttin, „während ich am Skamander von den Gebeten der abziehenden Griechen gerufen, das Beuteloos mir betrachte, das die frommen Söhne des Theſeus opfernd mir dort hinterließen? Was für ungewohnte Gäſte muß ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten Sterblichen ähnlich, haben ſich in drohender Stellung hinter ihn geſchaart. Redet, wer ſeyd ihr alle und was wollet ihr?“
Oreſtes, von Furcht und Zittern ſprachlos, lag noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber ſtanden unverzagt hinter ihm, und nahmen das Wort. „Jupiters
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auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem ver¬
wundeten Rehbock, ſind wir deinen Fußſtapfen gefolgt,
die von Blute triefen! Du ſollſt kein Aſyl finden, Mut¬
termörder! dein rothes Blut wollen wir dir aus den
Gliedern ſaugen, und dann das blaſſe Schattenbild mit
uns hinunter in den Tartarus führen! Nicht Apollo's,
nicht Athene's Gewalt ſoll dich von der ewigen Qual
befreien! Mein Wild biſt du, mir genährt, für meinen
Altar beſtimmt! Auf, Schweſtern, laßt ihn uns mit
unſrem Reigen umtanzen und ſeine beſchwichtigte Seele
durch unſre Geſänge zu neuem Wahnſinn aufregen!“
Und ſchon wollten ſie ihr furchtbares Lied anſtim¬
men, als plötzlich ein überirdiſches Licht den Tempel
durchleuchtete, die Bildſäule verſchwunden war, und an
ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene ſtand, mit ern¬
ſten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die
ihre Tempelhallen füllte, und den unſterblichen Mund
zu der himmliſchen Rede erſchließend.
„Wer hat ſich in mein Heiligthum gedrängt,“ ſprach
die Göttin, „während ich am Skamander von den Gebeten
der abziehenden Griechen gerufen, das Beuteloos mir
betrachte, das die frommen Söhne des Theſeus opfernd
mir dort hinterließen? Was für ungewohnte Gäſte muß
ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält
meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten
Sterblichen ähnlich, haben ſich in drohender Stellung
hinter ihn geſchaart. Redet, wer ſeyd ihr alle und was
wollet ihr?“
Oreſtes, von Furcht und Zittern ſprachlos, lag
noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber ſtanden
unverzagt hinter ihm, und nahmen das Wort. „Jupiters
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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