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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Wolken das Unrecht erdulden sehen, sondern ich stände,
mit Flammen umgürtet, vorn im Trojanertreffen. Daß
ich der Nymphe Juturna gerathen, in der Noth ihrem
Bruder beizustehen, ist wahr; aber daß sie ohne mein
Zuthun dem Bruder das Schwert gereicht, das schwöre
ich dir beim Styx! Auch will ich mich des Kampfes
gar nicht mehr annehmen, und bitte dich nur um Eines:
Wenn Turnus erlegen ist und Aeneas die Königstoch¬
ter heimführt: zwinge die Latiner nicht, ihren alten
Volksnamen aufzugeben und sich Trojaner zu nennen,
zwinge sie nicht, ihre Sprache zu vertauschen, nicht,
fremde Gewande, Sitten und Gebräuche anzunehmen,
laß sie das Volk bleiben, das sie gewesen sind, laß auch
den Römerstamm aus italischer Wurzel emporwachsen!
Troja aber sey und bleibe gefallen mit samt seinem Namen!"

Lächelnd erwiederte der Göttervater seiner Gemah¬
lin: "Kind des Saturnus, geliebte Schwester, was für
Zorneswellen wälzest du noch in deinem Innern? Be¬
zähme doch deinen vergeblichen Groll. Was du begeh¬
rest soll dir ja gewährt seyn. Latium soll Sprache,
Sitten und Namen beibehalten. Der Trojaner soll sich
mit dem Volke verschmelzen und nur so sich ansiedeln;
er soll die Opfergebräuche des Landes annehmen, er soll
ganz zum Latiner werden. Die Römer, das neue Ge¬
schlecht, das aus dem vermählten Blute der Italer und
Teukrer entstehen wird, sollen das Volk seyn, das dir,
o Juno, die meiste Ehre erweisen wird!" Die Göttin
nickte dem Gemahl freudig zu, und änderte, zufriedenge¬
stellt, ihre Gesinnung.

Nun dachte Jupiter darauf, die Schwester des
Turnus aus dem Kampfe zu entfernen. Drei Zwillings¬

Wolken das Unrecht erdulden ſehen, ſondern ich ſtände,
mit Flammen umgürtet, vorn im Trojanertreffen. Daß
ich der Nymphe Juturna gerathen, in der Noth ihrem
Bruder beizuſtehen, iſt wahr; aber daß ſie ohne mein
Zuthun dem Bruder das Schwert gereicht, das ſchwöre
ich dir beim Styx! Auch will ich mich des Kampfes
gar nicht mehr annehmen, und bitte dich nur um Eines:
Wenn Turnus erlegen iſt und Aeneas die Königstoch¬
ter heimführt: zwinge die Latiner nicht, ihren alten
Volksnamen aufzugeben und ſich Trojaner zu nennen,
zwinge ſie nicht, ihre Sprache zu vertauſchen, nicht,
fremde Gewande, Sitten und Gebräuche anzunehmen,
laß ſie das Volk bleiben, das ſie geweſen ſind, laß auch
den Römerſtamm aus italiſcher Wurzel emporwachſen!
Troja aber ſey und bleibe gefallen mit ſamt ſeinem Namen!“

Lächelnd erwiederte der Göttervater ſeiner Gemah¬
lin: „Kind des Saturnus, geliebte Schweſter, was für
Zorneswellen wälzeſt du noch in deinem Innern? Be¬
zähme doch deinen vergeblichen Groll. Was du begeh¬
reſt ſoll dir ja gewährt ſeyn. Latium ſoll Sprache,
Sitten und Namen beibehalten. Der Trojaner ſoll ſich
mit dem Volke verſchmelzen und nur ſo ſich anſiedeln;
er ſoll die Opfergebräuche des Landes annehmen, er ſoll
ganz zum Latiner werden. Die Römer, das neue Ge¬
ſchlecht, das aus dem vermählten Blute der Italer und
Teukrer entſtehen wird, ſollen das Volk ſeyn, das dir,
o Juno, die meiſte Ehre erweiſen wird!“ Die Göttin
nickte dem Gemahl freudig zu, und änderte, zufriedenge¬
ſtellt, ihre Geſinnung.

Nun dachte Jupiter darauf, die Schweſter des
Turnus aus dem Kampfe zu entfernen. Drei Zwillings¬

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[437/0459] Wolken das Unrecht erdulden ſehen, ſondern ich ſtände, mit Flammen umgürtet, vorn im Trojanertreffen. Daß ich der Nymphe Juturna gerathen, in der Noth ihrem Bruder beizuſtehen, iſt wahr; aber daß ſie ohne mein Zuthun dem Bruder das Schwert gereicht, das ſchwöre ich dir beim Styx! Auch will ich mich des Kampfes gar nicht mehr annehmen, und bitte dich nur um Eines: Wenn Turnus erlegen iſt und Aeneas die Königstoch¬ ter heimführt: zwinge die Latiner nicht, ihren alten Volksnamen aufzugeben und ſich Trojaner zu nennen, zwinge ſie nicht, ihre Sprache zu vertauſchen, nicht, fremde Gewande, Sitten und Gebräuche anzunehmen, laß ſie das Volk bleiben, das ſie geweſen ſind, laß auch den Römerſtamm aus italiſcher Wurzel emporwachſen! Troja aber ſey und bleibe gefallen mit ſamt ſeinem Namen!“ Lächelnd erwiederte der Göttervater ſeiner Gemah¬ lin: „Kind des Saturnus, geliebte Schweſter, was für Zorneswellen wälzeſt du noch in deinem Innern? Be¬ zähme doch deinen vergeblichen Groll. Was du begeh¬ reſt ſoll dir ja gewährt ſeyn. Latium ſoll Sprache, Sitten und Namen beibehalten. Der Trojaner ſoll ſich mit dem Volke verſchmelzen und nur ſo ſich anſiedeln; er ſoll die Opfergebräuche des Landes annehmen, er ſoll ganz zum Latiner werden. Die Römer, das neue Ge¬ ſchlecht, das aus dem vermählten Blute der Italer und Teukrer entſtehen wird, ſollen das Volk ſeyn, das dir, o Juno, die meiſte Ehre erweiſen wird!“ Die Göttin nickte dem Gemahl freudig zu, und änderte, zufriedenge¬ ſtellt, ihre Geſinnung. Nun dachte Jupiter darauf, die Schweſter des Turnus aus dem Kampfe zu entfernen. Drei Zwillings¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/459>, abgerufen am 22.11.2024.