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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Andere sorgen!" Turnus blickte sie lange staunend an
und sprach: "So hab' ich mich doch nicht getäuscht!
Mir war längst, als wenn nicht mein Wagenlenker Me¬
tiskus mir zur Seite säße, sondern, als wenn du es
wärest, geliebte Schwester! Ja, ich habe dich schon er¬
kannt, als deine List das Bündniß der Könige trennte!
Auch jetzt verbirgst du dich mir umsonst, o Göttliche!
Aber sage mir, wer sandte dich vom Olympus herab
und hieß dich um meinetwillen die Beschwerden der
Sterblichen erdulden? Bist du etwa dazu abgesandt, den
Tod deines armen Bruders zu schauen? Denn habe ich
eine andere Aussicht? Sah ich nicht die edelsten und
tapfersten Rutuler um mich her fallen? Nun muß ich
es auch noch mit ansehen, daß die Stadt erstürmt und
verwüstet wird! Und ich sollte nicht mit meiner Faust
die Worte des neidischen Drances widerlegen, sollte
schimpflich mich dem Kampfe entziehen? Und mein Land,
mein Volk sollte den Turnus fliehen sehen? Ist denn
der Tod so etwas gar Unseliges? Ihr Götter der Unter¬
welt, seyd Ihr mir wenigstens geneigt, weil die Neigung
der Himmlischen sich von mir abkehrt! Vorwurfslos,
ein fleckenfreier Geist, will ich, des Ruhmes meiner Alt¬
vordern werth, zu euch hinuntersteigen!"

Kaum hatte er die Worte gesprochen, als mitten
durch die Feinde auf einem schäumenden Rosse der Ru¬
tuler Saces, dem das Angesicht von einem Pfeilwurfe
blutete, herangestürmt kam und den Turnus flehend beim
Namen rief: "Komm, Turnus, komm, du bist unsere
letzte Hoffnung! Aeneas ist in der Stadt, bedroht die
Burg; Feuerbrände fliegen nach den Häusern: der König
zweifelt schon, wen er zum Eidam wählen soll; die

Andere ſorgen!“ Turnus blickte ſie lange ſtaunend an
und ſprach: „So hab' ich mich doch nicht getäuſcht!
Mir war längſt, als wenn nicht mein Wagenlenker Me¬
tiskus mir zur Seite ſäße, ſondern, als wenn du es
wäreſt, geliebte Schweſter! Ja, ich habe dich ſchon er¬
kannt, als deine Liſt das Bündniß der Könige trennte!
Auch jetzt verbirgſt du dich mir umſonſt, o Göttliche!
Aber ſage mir, wer ſandte dich vom Olympus herab
und hieß dich um meinetwillen die Beſchwerden der
Sterblichen erdulden? Biſt du etwa dazu abgeſandt, den
Tod deines armen Bruders zu ſchauen? Denn habe ich
eine andere Ausſicht? Sah ich nicht die edelſten und
tapferſten Rutuler um mich her fallen? Nun muß ich
es auch noch mit anſehen, daß die Stadt erſtürmt und
verwüſtet wird! Und ich ſollte nicht mit meiner Fauſt
die Worte des neidiſchen Drances widerlegen, ſollte
ſchimpflich mich dem Kampfe entziehen? Und mein Land,
mein Volk ſollte den Turnus fliehen ſehen? Iſt denn
der Tod ſo etwas gar Unſeliges? Ihr Götter der Unter¬
welt, ſeyd Ihr mir wenigſtens geneigt, weil die Neigung
der Himmliſchen ſich von mir abkehrt! Vorwurfslos,
ein fleckenfreier Geiſt, will ich, des Ruhmes meiner Alt¬
vordern werth, zu euch hinunterſteigen!“

Kaum hatte er die Worte geſprochen, als mitten
durch die Feinde auf einem ſchäumenden Roſſe der Ru¬
tuler Saces, dem das Angeſicht von einem Pfeilwurfe
blutete, herangeſtürmt kam und den Turnus flehend beim
Namen rief: „Komm, Turnus, komm, du biſt unſere
letzte Hoffnung! Aeneas iſt in der Stadt, bedroht die
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[432/0454] Andere ſorgen!“ Turnus blickte ſie lange ſtaunend an und ſprach: „So hab' ich mich doch nicht getäuſcht! Mir war längſt, als wenn nicht mein Wagenlenker Me¬ tiskus mir zur Seite ſäße, ſondern, als wenn du es wäreſt, geliebte Schweſter! Ja, ich habe dich ſchon er¬ kannt, als deine Liſt das Bündniß der Könige trennte! Auch jetzt verbirgſt du dich mir umſonſt, o Göttliche! Aber ſage mir, wer ſandte dich vom Olympus herab und hieß dich um meinetwillen die Beſchwerden der Sterblichen erdulden? Biſt du etwa dazu abgeſandt, den Tod deines armen Bruders zu ſchauen? Denn habe ich eine andere Ausſicht? Sah ich nicht die edelſten und tapferſten Rutuler um mich her fallen? Nun muß ich es auch noch mit anſehen, daß die Stadt erſtürmt und verwüſtet wird! Und ich ſollte nicht mit meiner Fauſt die Worte des neidiſchen Drances widerlegen, ſollte ſchimpflich mich dem Kampfe entziehen? Und mein Land, mein Volk ſollte den Turnus fliehen ſehen? Iſt denn der Tod ſo etwas gar Unſeliges? Ihr Götter der Unter¬ welt, ſeyd Ihr mir wenigſtens geneigt, weil die Neigung der Himmliſchen ſich von mir abkehrt! Vorwurfslos, ein fleckenfreier Geiſt, will ich, des Ruhmes meiner Alt¬ vordern werth, zu euch hinunterſteigen!“ Kaum hatte er die Worte geſprochen, als mitten durch die Feinde auf einem ſchäumenden Roſſe der Ru¬ tuler Saces, dem das Angeſicht von einem Pfeilwurfe blutete, herangeſtürmt kam und den Turnus flehend beim Namen rief: „Komm, Turnus, komm, du biſt unſere letzte Hoffnung! Aeneas iſt in der Stadt, bedroht die Burg; Feuerbrände fliegen nach den Häuſern: der König zweifelt ſchon, wen er zum Eidam wählen ſoll; die

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/454>, abgerufen am 25.11.2024.