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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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heranblühender Sohn. Dann brachte ein Priester in
reinem Gewande ein borstiges Ferkel und ein langwol¬
liges Lamm, und stellte die Thiere an die brennenden
Altäre. Die Fürsten wandten sich mit ihrem Angesichte
der aufgegangenen Sonne zu, streuten gesalzenes Mehl
auf die Opfer, schoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle,
und goßen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beschworen
dort Aeneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Ver¬
trag: würde Aeneas besiegt, so sollten die Trojaner unter
Julus Latium auf der Stelle räumen, und nach Pallan¬
teum, der Stadt Evanders, sich zurückziehen; wäre der Sieg
sein, so sollten sich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und
selbstständig, vereinigen, Latinus herrschen, Aeneas die
Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt sich und seinem
Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen.

Den Rutulern erschien längst der Kampf als ein
ungleicher: ihre Herzen gährten ungeduldig, und der
Ausgang däuchte ihnen, bei des Aeneas überwiegender
Heldenkraft, sehr unsicher. Ihre Sorge vermehrte sich,
als sie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und
eingefallenen Wangen schweigend vortreten und mit
gesenktem Haupte vor dem Altare stehen sahen. Seiner
Schwester Juturna entgingen diese Eindrücke nicht; sie,
eine unsterbliche Nymphe, verwandelte sich schnell in die
Gestalt des Helden Camers, der durch mächtige Ahnen
und eigene Thaten in großem Ansehen bei dem Rutu¬
lervolke stand, und mischte sich mitten unter das Heer.
"Rutuler," flüsterte sie da, "schämt ihr euch nicht, für
euch viele streitbaren Männer, die ihr so gut kämpfen
könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten?
Sind wir unsern Gegnern etwa an Kräften nicht

heranblühender Sohn. Dann brachte ein Prieſter in
reinem Gewande ein borſtiges Ferkel und ein langwol¬
liges Lamm, und ſtellte die Thiere an die brennenden
Altäre. Die Fürſten wandten ſich mit ihrem Angeſichte
der aufgegangenen Sonne zu, ſtreuten geſalzenes Mehl
auf die Opfer, ſchoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle,
und goßen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beſchworen
dort Aeneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Ver¬
trag: würde Aeneas beſiegt, ſo ſollten die Trojaner unter
Julus Latium auf der Stelle räumen, und nach Pallan¬
teum, der Stadt Evanders, ſich zurückziehen; wäre der Sieg
ſein, ſo ſollten ſich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und
ſelbſtſtändig, vereinigen, Latinus herrſchen, Aeneas die
Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt ſich und ſeinem
Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen.

Den Rutulern erſchien längſt der Kampf als ein
ungleicher: ihre Herzen gährten ungeduldig, und der
Ausgang däuchte ihnen, bei des Aeneas überwiegender
Heldenkraft, ſehr unſicher. Ihre Sorge vermehrte ſich,
als ſie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und
eingefallenen Wangen ſchweigend vortreten und mit
geſenktem Haupte vor dem Altare ſtehen ſahen. Seiner
Schweſter Juturna entgingen dieſe Eindrücke nicht; ſie,
eine unſterbliche Nymphe, verwandelte ſich ſchnell in die
Geſtalt des Helden Camers, der durch mächtige Ahnen
und eigene Thaten in großem Anſehen bei dem Rutu¬
lervolke ſtand, und miſchte ſich mitten unter das Heer.
„Rutuler,“ flüſterte ſie da, „ſchämt ihr euch nicht, für
euch viele ſtreitbaren Männer, die ihr ſo gut kämpfen
könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten?
Sind wir unſern Gegnern etwa an Kräften nicht

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[424/0446] heranblühender Sohn. Dann brachte ein Prieſter in reinem Gewande ein borſtiges Ferkel und ein langwol¬ liges Lamm, und ſtellte die Thiere an die brennenden Altäre. Die Fürſten wandten ſich mit ihrem Angeſichte der aufgegangenen Sonne zu, ſtreuten geſalzenes Mehl auf die Opfer, ſchoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle, und goßen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beſchworen dort Aeneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Ver¬ trag: würde Aeneas beſiegt, ſo ſollten die Trojaner unter Julus Latium auf der Stelle räumen, und nach Pallan¬ teum, der Stadt Evanders, ſich zurückziehen; wäre der Sieg ſein, ſo ſollten ſich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und ſelbſtſtändig, vereinigen, Latinus herrſchen, Aeneas die Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt ſich und ſeinem Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen. Den Rutulern erſchien längſt der Kampf als ein ungleicher: ihre Herzen gährten ungeduldig, und der Ausgang däuchte ihnen, bei des Aeneas überwiegender Heldenkraft, ſehr unſicher. Ihre Sorge vermehrte ſich, als ſie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und eingefallenen Wangen ſchweigend vortreten und mit geſenktem Haupte vor dem Altare ſtehen ſahen. Seiner Schweſter Juturna entgingen dieſe Eindrücke nicht; ſie, eine unſterbliche Nymphe, verwandelte ſich ſchnell in die Geſtalt des Helden Camers, der durch mächtige Ahnen und eigene Thaten in großem Anſehen bei dem Rutu¬ lervolke ſtand, und miſchte ſich mitten unter das Heer. „Rutuler,“ flüſterte ſie da, „ſchämt ihr euch nicht, für euch viele ſtreitbaren Männer, die ihr ſo gut kämpfen könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten? Sind wir unſern Gegnern etwa an Kräften nicht

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/446>, abgerufen am 22.11.2024.