des alten Königes Latinus verschwunden. Niedergebeugt von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer großen Versammlung in seinem Königspalast, setzte sich mit düsterer Stirne auf seinen Herrscherthron, und hieß den zurückgekommenen Boten mit seinen Begleitern Be¬ richt erstatten.
"Bürger," begann hier Venulus, "wir sahen den Helden Diomedes und die Pflanzstadt der Argiver, unter den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der schö¬ nen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimath gesagt, unsre Geschenke vor ihm ausgebreitet und ihm gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimsuche, erwie¬ derte uns der große Fürst mit freundlichem Angesichte: O ihr glücklichen Völker Ausoniens, ihr unter der Obhut des guten Saturnus lebenden, welch' ein Schicksal stört auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troja's sind die elendesten unter allen Sterblichen! Selbst Priamus müßte uns bemitleiden, wenn er schaute, wie schwer wir unsern Uebermuth büßen müssen. Der Lokrer Ajax hat im Meere sein Grab gefunden; Agamemnon liegt im eigenen Haus erschlagen; Menelaus irrt in Egypten um¬ her; Ulysses zitterte vor den Cyklopen. Auch mir haben die Götter die Wiederkehr in meine Heimath mißgönnt; erlasset mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des Glückes mehr, seit ich es gewagt habe, die unsterbliche Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen ist, bin ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit Freuden an das Uebel zurück, das ich ihnen zugefügt. Die Geschenke, die ihr mir von Hause bringet, über¬ reichet sie dem Aeneas! Ich habe mich im Kampfe mit
des alten Königes Latinus verſchwunden. Niedergebeugt von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer großen Verſammlung in ſeinem Königspalaſt, ſetzte ſich mit düſterer Stirne auf ſeinen Herrſcherthron, und hieß den zurückgekommenen Boten mit ſeinen Begleitern Be¬ richt erſtatten.
„Bürger,“ begann hier Venulus, „wir ſahen den Helden Diomedes und die Pflanzſtadt der Argiver, unter den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der ſchö¬ nen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimath geſagt, unſre Geſchenke vor ihm ausgebreitet und ihm gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimſuche, erwie¬ derte uns der große Fürſt mit freundlichem Angeſichte: O ihr glücklichen Völker Auſoniens, ihr unter der Obhut des guten Saturnus lebenden, welch' ein Schickſal ſtört auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troja's ſind die elendeſten unter allen Sterblichen! Selbſt Priamus müßte uns bemitleiden, wenn er ſchaute, wie ſchwer wir unſern Uebermuth büßen müſſen. Der Lokrer Ajax hat im Meere ſein Grab gefunden; Agamemnon liegt im eigenen Haus erſchlagen; Menelaus irrt in Egypten um¬ her; Ulyſſes zitterte vor den Cyklopen. Auch mir haben die Götter die Wiederkehr in meine Heimath mißgönnt; erlaſſet mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des Glückes mehr, ſeit ich es gewagt habe, die unſterbliche Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen iſt, bin ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit Freuden an das Uebel zurück, das ich ihnen zugefügt. Die Geſchenke, die ihr mir von Hauſe bringet, über¬ reichet ſie dem Aeneas! Ich habe mich im Kampfe mit
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des alten Königes Latinus verſchwunden. Niedergebeugt
von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer
großen Verſammlung in ſeinem Königspalaſt, ſetzte ſich
mit düſterer Stirne auf ſeinen Herrſcherthron, und hieß
den zurückgekommenen Boten mit ſeinen Begleitern Be¬
richt erſtatten.
„Bürger,“ begann hier Venulus, „wir ſahen den
Helden Diomedes und die Pflanzſtadt der Argiver, unter
den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der ſchö¬
nen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimath
geſagt, unſre Geſchenke vor ihm ausgebreitet und ihm
gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimſuche, erwie¬
derte uns der große Fürſt mit freundlichem Angeſichte:
O ihr glücklichen Völker Auſoniens, ihr unter der Obhut
des guten Saturnus lebenden, welch' ein Schickſal ſtört
auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troja's ſind
die elendeſten unter allen Sterblichen! Selbſt Priamus
müßte uns bemitleiden, wenn er ſchaute, wie ſchwer wir
unſern Uebermuth büßen müſſen. Der Lokrer Ajax hat
im Meere ſein Grab gefunden; Agamemnon liegt im
eigenen Haus erſchlagen; Menelaus irrt in Egypten um¬
her; Ulyſſes zitterte vor den Cyklopen. Auch mir haben
die Götter die Wiederkehr in meine Heimath mißgönnt;
erlaſſet mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des
Glückes mehr, ſeit ich es gewagt habe, die unſterbliche
Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich
nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen iſt, bin
ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit
Freuden an das Uebel zurück, das ich ihnen zugefügt.
Die Geſchenke, die ihr mir von Hauſe bringet, über¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/432>, abgerufen am 25.11.2024.
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