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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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und erschien, auf einem thracischen gefleckten Schimmel,
unvermuthet vor den Mauern des Lagers. "Wer wagt
sich zuerst an den Feind?" fragte er, rückwärts gewen¬
det, seine kleine Schaar, und schleuderte seinen Wurfspieß
durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten seine Genossen
ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerseelen, die
sich hinter ihren Mauern verschanzt hielten, und es nicht
wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzusteigen.
Indessen spähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm
mit dem rothen Federbusch auf dem Haupte, ringsum die
Mauern des Lagers aus, und suchte einen unbemerkten
Zugang. Es schnaubt ein Wolf bei Wind und Regen
die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafstall her¬
um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und
Lämmer, die drinnen in Sicherheit sitzen. Endlich fiel
ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und
Wellen umgeben, sich geborgen an die eine Seite des
Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er seine Freunde,
diese in Brand zu stecken, ergriff selbst zuerst die flam¬
mende Fackel und sofort bewehrte sich die gesammte
Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬
bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten
geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die
Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein
göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬
wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am
Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in
das fremde Land tragen sollte, flehte Cybele, die Mutter
aller Götter, zum allmächtigen Zeus: "Sohn, gib mir,
was ich von dir verlange! Ich habe dem dardanischen
Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen schönen

und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel,
unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt
ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬
det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß
durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen
ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die
ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht
wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen.
Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm
mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die
Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten
Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen
die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬
um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und
Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel
ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und
Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des
Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde,
dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬
mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte
Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬
bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten
geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die
Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein
göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬
wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am
Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in
das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter
aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir,
was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen
Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen

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[372/0394] und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel, unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬ det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen. Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬ um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde, dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬ mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬ bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬ wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/394>, abgerufen am 22.11.2024.