und erschien, auf einem thracischen gefleckten Schimmel, unvermuthet vor den Mauern des Lagers. "Wer wagt sich zuerst an den Feind?" fragte er, rückwärts gewen¬ det, seine kleine Schaar, und schleuderte seinen Wurfspieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten seine Genossen ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerseelen, die sich hinter ihren Mauern verschanzt hielten, und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzusteigen. Indessen spähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem rothen Federbusch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus, und suchte einen unbemerkten Zugang. Es schnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafstall her¬ um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit sitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, sich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er seine Freunde, diese in Brand zu stecken, ergriff selbst zuerst die flam¬ mende Fackel und sofort bewehrte sich die gesammte Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬ bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬ wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen sollte, flehte Cybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: "Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardanischen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen schönen
und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel, unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬ det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen. Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬ um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde, dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬ mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬ bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬ wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0394"n="372"/>
und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel,<lb/>
unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt<lb/>ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬<lb/>
det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß<lb/>
durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen<lb/>
ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die<lb/>ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht<lb/>
wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen.<lb/>
Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm<lb/>
mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die<lb/>
Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten<lb/>
Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen<lb/>
die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬<lb/>
um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und<lb/>
Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel<lb/>
ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und<lb/>
Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des<lb/>
Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde,<lb/>
dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬<lb/>
mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte<lb/>
Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬<lb/>
bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten<lb/>
geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die<lb/>
Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein<lb/>
göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬<lb/>
wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am<lb/>
Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in<lb/>
das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter<lb/>
aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir,<lb/>
was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen<lb/>
Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[372/0394]
und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel,
unvermuthet vor den Mauern des Lagers. „Wer wagt
ſich zuerſt an den Feind?“ fragte er, rückwärts gewen¬
det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß
durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen
ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die
ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht
wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen.
Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm
mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die
Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten
Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen
die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬
um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und
Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel
ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und
Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des
Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde,
dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬
mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte
Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬
bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten
geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die
Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein
göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬
wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am
Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in
das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter
aller Götter, zum allmächtigen Zeus: „Sohn, gib mir,
was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen
Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/394>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.