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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Traumbild geschreckt und zu banger Furcht aufgeregt,
schickt sie mich heute, wo Aegisthus nicht zu Hause ist,
des Vaters Geist mit diesem Grabesopfer zu versöhnen."
-- "Theure Schwester," sprach Elektra auf einmal in
bittendem Tone, "ferne sey, daß die Spende des feind¬
seligen Weibes das Grab unseres Vaters berühre! Gib
das Opfer den Winden, vergrab' es tief in den Sand,
wo auch kein Theilchen davon die Ruhestätte unsers Va¬
ters erreichen könne. Meinst du, der Todte im Grabe
werde das Weihgeschenk seiner Mörderin frohen Muthes
empfangen? Wirf du vielmehr Alles hin, schneide dir
und mir ein paar Locken des Haupthaares ab und bring
ihm dieses unser demüthiges Haar und meinen Gürtel
da, das Einzige was ich habe, als wohlgefälliges Opfer
dar. Wirf dich dazu nieder und flehe zu ihm, daß er
aus dem Erdenschooß als Beistand gegen unsere Feinde
heraufsteige, daß der stolze Fußtritt seines Sohnes Orestes
bald erschalle und seine Mörder niedertrete. Dann wollen
wir sein Grab mit reicheren Opfern schmücken!" Chry¬
sothemis, zum erstenmale von der Rede der Schwester
ergriffen, versprach zu gehorchen, und eilte mit dem
Opfer der Mutter hinaus ins Freie.

Sie hatte sich noch nicht lange entfernt, so kam
Klytämnestra aus den innern Hallen des Pallastes und
fing in gewohnter Weise auf ihre ältere Tochter zu
schmähen an: "Du bist heute wieder ganz ausgelassen,
scheint es, Elektra, weil Aegisthus, der dich doch sonst
in Schranken hielt, heute fort ist. Schämst du dich nicht,
anders als es einer sittsamen Jungfrau geziemt, den
Deinen zur Schande vor das Thor zu gehen und mich da
wohl bei den aus- und eingehenden Mägden zu verklagen?

Schwab, das klass. Alterthum. III. 2

Traumbild geſchreckt und zu banger Furcht aufgeregt,
ſchickt ſie mich heute, wo Aegiſthus nicht zu Hauſe iſt,
des Vaters Geiſt mit dieſem Grabesopfer zu verſöhnen.“
— „Theure Schweſter,“ ſprach Elektra auf einmal in
bittendem Tone, „ferne ſey, daß die Spende des feind¬
ſeligen Weibes das Grab unſeres Vaters berühre! Gib
das Opfer den Winden, vergrab' es tief in den Sand,
wo auch kein Theilchen davon die Ruheſtätte unſers Va¬
ters erreichen könne. Meinſt du, der Todte im Grabe
werde das Weihgeſchenk ſeiner Mörderin frohen Muthes
empfangen? Wirf du vielmehr Alles hin, ſchneide dir
und mir ein paar Locken des Haupthaares ab und bring
ihm dieſes unſer demüthiges Haar und meinen Gürtel
da, das Einzige was ich habe, als wohlgefälliges Opfer
dar. Wirf dich dazu nieder und flehe zu ihm, daß er
aus dem Erdenſchooß als Beiſtand gegen unſere Feinde
heraufſteige, daß der ſtolze Fußtritt ſeines Sohnes Oreſtes
bald erſchalle und ſeine Mörder niedertrete. Dann wollen
wir ſein Grab mit reicheren Opfern ſchmücken!“ Chry¬
ſothemis, zum erſtenmale von der Rede der Schweſter
ergriffen, verſprach zu gehorchen, und eilte mit dem
Opfer der Mutter hinaus ins Freie.

Sie hatte ſich noch nicht lange entfernt, ſo kam
Klytämneſtra aus den innern Hallen des Pallaſtes und
fing in gewohnter Weiſe auf ihre ältere Tochter zu
ſchmähen an: „Du biſt heute wieder ganz ausgelaſſen,
ſcheint es, Elektra, weil Aegiſthus, der dich doch ſonſt
in Schranken hielt, heute fort iſt. Schämſt du dich nicht,
anders als es einer ſittſamen Jungfrau geziemt, den
Deinen zur Schande vor das Thor zu gehen und mich da
wohl bei den aus- und eingehenden Mägden zu verklagen?

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[17/0039] Traumbild geſchreckt und zu banger Furcht aufgeregt, ſchickt ſie mich heute, wo Aegiſthus nicht zu Hauſe iſt, des Vaters Geiſt mit dieſem Grabesopfer zu verſöhnen.“ — „Theure Schweſter,“ ſprach Elektra auf einmal in bittendem Tone, „ferne ſey, daß die Spende des feind¬ ſeligen Weibes das Grab unſeres Vaters berühre! Gib das Opfer den Winden, vergrab' es tief in den Sand, wo auch kein Theilchen davon die Ruheſtätte unſers Va¬ ters erreichen könne. Meinſt du, der Todte im Grabe werde das Weihgeſchenk ſeiner Mörderin frohen Muthes empfangen? Wirf du vielmehr Alles hin, ſchneide dir und mir ein paar Locken des Haupthaares ab und bring ihm dieſes unſer demüthiges Haar und meinen Gürtel da, das Einzige was ich habe, als wohlgefälliges Opfer dar. Wirf dich dazu nieder und flehe zu ihm, daß er aus dem Erdenſchooß als Beiſtand gegen unſere Feinde heraufſteige, daß der ſtolze Fußtritt ſeines Sohnes Oreſtes bald erſchalle und ſeine Mörder niedertrete. Dann wollen wir ſein Grab mit reicheren Opfern ſchmücken!“ Chry¬ ſothemis, zum erſtenmale von der Rede der Schweſter ergriffen, verſprach zu gehorchen, und eilte mit dem Opfer der Mutter hinaus ins Freie. Sie hatte ſich noch nicht lange entfernt, ſo kam Klytämneſtra aus den innern Hallen des Pallaſtes und fing in gewohnter Weiſe auf ihre ältere Tochter zu ſchmähen an: „Du biſt heute wieder ganz ausgelaſſen, ſcheint es, Elektra, weil Aegiſthus, der dich doch ſonſt in Schranken hielt, heute fort iſt. Schämſt du dich nicht, anders als es einer ſittſamen Jungfrau geziemt, den Deinen zur Schande vor das Thor zu gehen und mich da wohl bei den aus- und eingehenden Mägden zu verklagen? Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 2

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/39>, abgerufen am 25.11.2024.