Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen sie sich nicht
einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬
beizuholen, sondern sie buken breite Weizenkuchen, die ih¬
nen statt der Tische und Teller dienten, und auf welchen
sie die Speisen ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den
sie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch
nicht gestillt war, ergriffen sie Teller und Tische von
Weizenmehl und bissen rüstig ein. Da sagte der kleine
Julus lachend: "Wir verzehren ja unsere eigenen Tische!"
Dieser Scherz fiel Allen mit schwerem entscheidenden Ge¬
wicht ins Ohr. Freudig sprang Aeneas vom Boden
auf und rief: "Heil dir, du fremdes Land! du bist's,
das mir vom Geschicke verheißene! Auf heitre Weise
wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas
Entsetzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns
an unbekannten Gestaden, so krächzte sie, nöthigen, die
eigenen Tische zu verzehren. Wohlan denn, es ist ge¬
schehen, der Spruch hat sich erfüllt, von dem auch mein
Vater Anchises mir geweissagt hatte. Wenn dieses ge¬
schieht, sprach er, dann ist das Ende der Mühseligkeiten
da, dann bauet Häuser!"

Jetzt erkundigten sich die Fremdlinge, welche, das
fruchlbare Land durchstreifend, bald auf Wohnungen
stießen, nach dem Volk und Könige des Landes und
schnell ward eine Gesandtschaft an Latinus, den König
der Laurenter beschlossen.


bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen ſie ſich nicht
einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬
beizuholen, ſondern ſie buken breite Weizenkuchen, die ih¬
nen ſtatt der Tiſche und Teller dienten, und auf welchen
ſie die Speiſen ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den
ſie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch
nicht geſtillt war, ergriffen ſie Teller und Tiſche von
Weizenmehl und biſſen rüſtig ein. Da ſagte der kleine
Julus lachend: „Wir verzehren ja unſere eigenen Tiſche!“
Dieſer Scherz fiel Allen mit ſchwerem entſcheidenden Ge¬
wicht ins Ohr. Freudig ſprang Aeneas vom Boden
auf und rief: „Heil dir, du fremdes Land! du biſt's,
das mir vom Geſchicke verheißene! Auf heitre Weiſe
wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas
Entſetzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns
an unbekannten Geſtaden, ſo krächzte ſie, nöthigen, die
eigenen Tiſche zu verzehren. Wohlan denn, es iſt ge¬
ſchehen, der Spruch hat ſich erfüllt, von dem auch mein
Vater Anchiſes mir geweiſſagt hatte. Wenn dieſes ge¬
ſchieht, ſprach er, dann iſt das Ende der Mühſeligkeiten
da, dann bauet Häuſer!“

Jetzt erkundigten ſich die Fremdlinge, welche, das
fruchlbare Land durchſtreifend, bald auf Wohnungen
ſtießen, nach dem Volk und Könige des Landes und
ſchnell ward eine Geſandtſchaft an Latinus, den König
der Laurenter beſchloſſen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0373" n="351"/>
bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen &#x017F;ie &#x017F;ich nicht<lb/>
einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬<lb/>
beizuholen, &#x017F;ondern &#x017F;ie buken breite Weizenkuchen, die ih¬<lb/>
nen &#x017F;tatt der Ti&#x017F;che und Teller dienten, und auf welchen<lb/>
&#x017F;ie die Spei&#x017F;en ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den<lb/>
&#x017F;ie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch<lb/>
nicht ge&#x017F;tillt war, ergriffen &#x017F;ie Teller und Ti&#x017F;che von<lb/>
Weizenmehl und bi&#x017F;&#x017F;en rü&#x017F;tig ein. Da &#x017F;agte der kleine<lb/>
Julus lachend: &#x201E;Wir verzehren ja un&#x017F;ere eigenen Ti&#x017F;che!&#x201C;<lb/>
Die&#x017F;er Scherz fiel Allen mit &#x017F;chwerem ent&#x017F;cheidenden Ge¬<lb/>
wicht ins Ohr. Freudig &#x017F;prang Aeneas vom Boden<lb/>
auf und rief: &#x201E;Heil dir, du fremdes Land! du bi&#x017F;t's,<lb/>
das mir vom Ge&#x017F;chicke verheißene! Auf heitre Wei&#x017F;e<lb/>
wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas<lb/>
Ent&#x017F;etzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns<lb/>
an unbekannten Ge&#x017F;taden, &#x017F;o krächzte &#x017F;ie, nöthigen, die<lb/>
eigenen Ti&#x017F;che zu verzehren. Wohlan denn, es i&#x017F;t ge¬<lb/>
&#x017F;chehen, der Spruch hat &#x017F;ich erfüllt, von dem auch mein<lb/>
Vater Anchi&#x017F;es mir gewei&#x017F;&#x017F;agt hatte. Wenn die&#x017F;es ge¬<lb/>
&#x017F;chieht, &#x017F;prach er, dann i&#x017F;t das Ende der Müh&#x017F;eligkeiten<lb/>
da, dann bauet Häu&#x017F;er!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Jetzt erkundigten &#x017F;ich die Fremdlinge, welche, das<lb/>
fruchlbare Land durch&#x017F;treifend, bald auf Wohnungen<lb/>
&#x017F;tießen, nach dem Volk und Könige des Landes und<lb/>
&#x017F;chnell ward eine Ge&#x017F;andt&#x017F;chaft an Latinus, den König<lb/>
der Laurenter be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0373] bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen ſie ſich nicht einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬ beizuholen, ſondern ſie buken breite Weizenkuchen, die ih¬ nen ſtatt der Tiſche und Teller dienten, und auf welchen ſie die Speiſen ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den ſie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch nicht geſtillt war, ergriffen ſie Teller und Tiſche von Weizenmehl und biſſen rüſtig ein. Da ſagte der kleine Julus lachend: „Wir verzehren ja unſere eigenen Tiſche!“ Dieſer Scherz fiel Allen mit ſchwerem entſcheidenden Ge¬ wicht ins Ohr. Freudig ſprang Aeneas vom Boden auf und rief: „Heil dir, du fremdes Land! du biſt's, das mir vom Geſchicke verheißene! Auf heitre Weiſe wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas Entſetzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns an unbekannten Geſtaden, ſo krächzte ſie, nöthigen, die eigenen Tiſche zu verzehren. Wohlan denn, es iſt ge¬ ſchehen, der Spruch hat ſich erfüllt, von dem auch mein Vater Anchiſes mir geweiſſagt hatte. Wenn dieſes ge¬ ſchieht, ſprach er, dann iſt das Ende der Mühſeligkeiten da, dann bauet Häuſer!“ Jetzt erkundigten ſich die Fremdlinge, welche, das fruchlbare Land durchſtreifend, bald auf Wohnungen ſtießen, nach dem Volk und Könige des Landes und ſchnell ward eine Geſandtſchaft an Latinus, den König der Laurenter beſchloſſen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/373
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/373>, abgerufen am 22.11.2024.