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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Getümmel längs des ganzen Gestades? hörst du die
Segel in den Lüften schwirren, siehst du, wie die Schif¬
fer die Verdecke bekränzen? Ach, hätte ich das geahnt,
ich würde es auch zu ertragen vermögen! Jetzt aber
bitte ich dich Schwester, thu' es mir Armen zu lieb';
dich hat ja der Verräther immer geehrt, hat dir seine
geheimsten Gefühle anvertraut: geh' zu ihm, Schwester,
rede den stolzen Feind mit unterthänigen Worten an.
Frag' ihn, ob ich denn eine Griechin sey, die zu Aulis
Troja's Untergang mitbeschworen habe, ob ich die Asche
seines Vaters Anchises frevelnd in die Lüfte gestreut,
daß er solche Rache an mir zu nehmen beschlossen? Heiß'
ihn wenigstens bessere Zeit zur Flucht, günstigere Winde
erwarten; ich verlange ja nicht, daß er auf Italien
verzichte; ich will nur eine Frist für meine wahnsinnige
Liebe, will nur Muße, bis ich mein Schicksal begreifen
und trauen gelernt habe!"

Also flehete sie und die geängstigte Schwester ging
und trug dem Helden die Thränen Dido's noch einmal
vor. Ihn aber vermochte kein Menschenwort ferner zu
erweichen; ein Gott verschloß dem gefühlvollen Manne
das sonst jedem Schmerz offene Ohr. Wie wenn die
Nordwinde den uralten Stamm einer Eiche, von beiden
Seiten her ihn fassend, auszuwühlen sich abmühen: die
Wipfel rauschen, der Stamm bebt, fallende Blätter decken
den Boden; sie aber haftet fest im Felsenboden und so
hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, so tief streckt sie ihre
Wurzeln hinunter in die Tiefe -- gerade so wurde der
Held von den beiden Schwestern mit Bitten bedrängt,
und er fühlte auch in seinem edlen Herzen alle die Qualen;
aber er blieb unbeweglich, wie die Eiche.

Getümmel längs des ganzen Geſtades? hörſt du die
Segel in den Lüften ſchwirren, ſiehst du, wie die Schif¬
fer die Verdecke bekränzen? Ach, hätte ich das geahnt,
ich würde es auch zu ertragen vermögen! Jetzt aber
bitte ich dich Schweſter, thu' es mir Armen zu lieb';
dich hat ja der Verräther immer geehrt, hat dir ſeine
geheimſten Gefühle anvertraut: geh' zu ihm, Schweſter,
rede den ſtolzen Feind mit unterthänigen Worten an.
Frag' ihn, ob ich denn eine Griechin ſey, die zu Aulis
Troja's Untergang mitbeſchworen habe, ob ich die Aſche
ſeines Vaters Anchiſes frevelnd in die Lüfte geſtreut,
daß er ſolche Rache an mir zu nehmen beſchloſſen? Heiß'
ihn wenigſtens beſſere Zeit zur Flucht, günſtigere Winde
erwarten; ich verlange ja nicht, daß er auf Italien
verzichte; ich will nur eine Friſt für meine wahnſinnige
Liebe, will nur Muße, bis ich mein Schickſal begreifen
und trauen gelernt habe!“

Alſo flehete ſie und die geängſtigte Schweſter ging
und trug dem Helden die Thränen Dido's noch einmal
vor. Ihn aber vermochte kein Menſchenwort ferner zu
erweichen; ein Gott verſchloß dem gefühlvollen Manne
das ſonſt jedem Schmerz offene Ohr. Wie wenn die
Nordwinde den uralten Stamm einer Eiche, von beiden
Seiten her ihn faſſend, auszuwühlen ſich abmühen: die
Wipfel rauſchen, der Stamm bebt, fallende Blätter decken
den Boden; ſie aber haftet feſt im Felſenboden und ſo
hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, ſo tief ſtreckt ſie ihre
Wurzeln hinunter in die Tiefe — gerade ſo wurde der
Held von den beiden Schweſtern mit Bitten bedrängt,
und er fühlte auch in ſeinem edlen Herzen alle die Qualen;
aber er blieb unbeweglich, wie die Eiche.

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[340/0362] Getümmel längs des ganzen Geſtades? hörſt du die Segel in den Lüften ſchwirren, ſiehst du, wie die Schif¬ fer die Verdecke bekränzen? Ach, hätte ich das geahnt, ich würde es auch zu ertragen vermögen! Jetzt aber bitte ich dich Schweſter, thu' es mir Armen zu lieb'; dich hat ja der Verräther immer geehrt, hat dir ſeine geheimſten Gefühle anvertraut: geh' zu ihm, Schweſter, rede den ſtolzen Feind mit unterthänigen Worten an. Frag' ihn, ob ich denn eine Griechin ſey, die zu Aulis Troja's Untergang mitbeſchworen habe, ob ich die Aſche ſeines Vaters Anchiſes frevelnd in die Lüfte geſtreut, daß er ſolche Rache an mir zu nehmen beſchloſſen? Heiß' ihn wenigſtens beſſere Zeit zur Flucht, günſtigere Winde erwarten; ich verlange ja nicht, daß er auf Italien verzichte; ich will nur eine Friſt für meine wahnſinnige Liebe, will nur Muße, bis ich mein Schickſal begreifen und trauen gelernt habe!“ Alſo flehete ſie und die geängſtigte Schweſter ging und trug dem Helden die Thränen Dido's noch einmal vor. Ihn aber vermochte kein Menſchenwort ferner zu erweichen; ein Gott verſchloß dem gefühlvollen Manne das ſonſt jedem Schmerz offene Ohr. Wie wenn die Nordwinde den uralten Stamm einer Eiche, von beiden Seiten her ihn faſſend, auszuwühlen ſich abmühen: die Wipfel rauſchen, der Stamm bebt, fallende Blätter decken den Boden; ſie aber haftet feſt im Felſenboden und ſo hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, ſo tief ſtreckt ſie ihre Wurzeln hinunter in die Tiefe — gerade ſo wurde der Held von den beiden Schweſtern mit Bitten bedrängt, und er fühlte auch in ſeinem edlen Herzen alle die Qualen; aber er blieb unbeweglich, wie die Eiche.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/362>, abgerufen am 22.11.2024.