"Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willst du deine holde Jugend denn ganz im Wittwengram verjammern? meinst du, der Staub deines Gatten kümmre sich um deine Entsagung? kommt es dir denn gar nicht in den Sinn, in welchem Gebiete du hausest, daß du auf der einen Seite von kriegerischen Gätulen, von un¬ bändigen Numiderstämmen, von ungastlichen Sandbänken, auf der andern Seite von wasserlosen Wüsten eingeschlos¬ sen bist? Und welche Kriege drohen dir von Tyrus her, von deinem unversöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch Gunst unserer Schutzgöttin Juno ist es geschehen, daß die trojanischen Schiffe hier gelandet sind. Schwester, wie mächtig würde unsere Stadt, wie mächtig das Reich durch eine solche Vermählung werden! Wie wird sich der Ruhm der Pöner steigern, von den Waffen der Troja¬ ner begleitet. Sey klug, liebe Schwester, opfere den Göttern, stelle Gastgebote an, umstricke die Helden mit Zögerungen aller Art, so lange ihre Flotte noch zerschellt ist, und die Winde den Schiffenden zuwider sind."
Anna entflammte mit diesen Worten Dido's glühende Seele noch mehr, und schläferte alle Scheu in ihrem Herzen ein. Sie gingen zusammen in die Tempel und opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den sidonischen Kö¬ nigsglanz, und feierte ihrem Gast zu Ehren ein neues Mahl; wieder herzte sie den Askanius, das Ebenbild seines Vaters, wieder konnte sie nicht satt werden, den Helden von Troja's Leiden erzählen zu hören.
Dieß Alles war der Göttermutter Juno vom Olymp herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden für immer um das verheißene Italien zu betrügen, und
„Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willſt du deine holde Jugend denn ganz im Wittwengram verjammern? meinſt du, der Staub deines Gatten kümmre ſich um deine Entſagung? kommt es dir denn gar nicht in den Sinn, in welchem Gebiete du hauſeſt, daß du auf der einen Seite von kriegeriſchen Gätulen, von un¬ bändigen Numiderſtämmen, von ungaſtlichen Sandbänken, auf der andern Seite von waſſerloſen Wüſten eingeſchloſ¬ ſen biſt? Und welche Kriege drohen dir von Tyrus her, von deinem unverſöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch Gunſt unſerer Schutzgöttin Juno iſt es geſchehen, daß die trojaniſchen Schiffe hier gelandet ſind. Schweſter, wie mächtig würde unſere Stadt, wie mächtig das Reich durch eine ſolche Vermählung werden! Wie wird ſich der Ruhm der Pöner ſteigern, von den Waffen der Troja¬ ner begleitet. Sey klug, liebe Schweſter, opfere den Göttern, ſtelle Gaſtgebote an, umſtricke die Helden mit Zögerungen aller Art, ſo lange ihre Flotte noch zerſchellt iſt, und die Winde den Schiffenden zuwider ſind.“
Anna entflammte mit dieſen Worten Dido's glühende Seele noch mehr, und ſchläferte alle Scheu in ihrem Herzen ein. Sie gingen zuſammen in die Tempel und opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den ſidoniſchen Kö¬ nigsglanz, und feierte ihrem Gaſt zu Ehren ein neues Mahl; wieder herzte ſie den Askanius, das Ebenbild ſeines Vaters, wieder konnte ſie nicht ſatt werden, den Helden von Troja's Leiden erzählen zu hören.
Dieß Alles war der Göttermutter Juno vom Olymp herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden für immer um das verheißene Italien zu betrügen, und
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„Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willſt
du deine holde Jugend denn ganz im Wittwengram
verjammern? meinſt du, der Staub deines Gatten kümmre
ſich um deine Entſagung? kommt es dir denn gar nicht
in den Sinn, in welchem Gebiete du hauſeſt, daß du
auf der einen Seite von kriegeriſchen Gätulen, von un¬
bändigen Numiderſtämmen, von ungaſtlichen Sandbänken,
auf der andern Seite von waſſerloſen Wüſten eingeſchloſ¬
ſen biſt? Und welche Kriege drohen dir von Tyrus her,
von deinem unverſöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch
Gunſt unſerer Schutzgöttin Juno iſt es geſchehen, daß
die trojaniſchen Schiffe hier gelandet ſind. Schweſter,
wie mächtig würde unſere Stadt, wie mächtig das Reich
durch eine ſolche Vermählung werden! Wie wird ſich
der Ruhm der Pöner ſteigern, von den Waffen der Troja¬
ner begleitet. Sey klug, liebe Schweſter, opfere den
Göttern, ſtelle Gaſtgebote an, umſtricke die Helden mit
Zögerungen aller Art, ſo lange ihre Flotte noch zerſchellt
iſt, und die Winde den Schiffenden zuwider ſind.“
Anna entflammte mit dieſen Worten Dido's glühende
Seele noch mehr, und ſchläferte alle Scheu in ihrem
Herzen ein. Sie gingen zuſammen in die Tempel und
opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten
Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den ſidoniſchen Kö¬
nigsglanz, und feierte ihrem Gaſt zu Ehren ein neues
Mahl; wieder herzte ſie den Askanius, das Ebenbild
ſeines Vaters, wieder konnte ſie nicht ſatt werden, den
Helden von Troja's Leiden erzählen zu hören.
Dieß Alles war der Göttermutter Juno vom Olymp
herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/353>, abgerufen am 22.11.2024.
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