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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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um ihn auszuspähen, ob er nicht, irgendwo gestrandet,
in Wäldern oder in Städten umherirrt."

Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Be¬
gierde, den Nebel zu durchbrechen, als sie solches hörten.
"Hörst du es, Sohn der Göttin," flüsterte zuerst Achates
seinem erhabenen Freunde zu, "die Schiffe, die Freunde
Alle sind gerettet; nur Einer fehlt, den wir selbst ins Meer
sinken sahen; sonst entspricht Alles den Verheißungen
deiner Mutter." Kaum war dieses gesprochen, als die
Nebelwolke sich von selbst theilte und in den offenen
Aether verschwand. Da stand nun Aeneas im heiteren
Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glän¬
zend: seine Mutter hatte ihm schönes wallendes Locken¬
haar auf Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die
Wangen, und in das heitere Auge den Strahl der Huld
gezaubert. Wie ein Wunder stand er vor Allen da,
wandte sich zur Königin und sprach: "Da bin ich, nach
dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich
der Trojaner Aeneas! Edle, großmüthige Königin, die
du die Trümmer deines unglücklichen Volkes erbarmungs¬
voll in deine Stadt aufgenommen hast, keiner von allen
Trojanern, die über die ganze Erde zerstreut sind, kann
dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmli¬
schen vergelten! Selig sind die Eltern, die dich gezeugt
haben! so lange die Erde stehet, wird dein Name bei
uns von Ruhme strahlen, welches Land uns auch rufen
mag!" So sprach Aeneas und eilte auf seine Freunde
zu, die Rechte, die Linke ihnen in die Wette darreichend.
Als sich Dido vom ersten Erstaunen erholt hatte, sprach
sie: "Sohn der Göttin, welches Schicksal verfolgt dich
durch solche Gefahren? Du bist also jener Aeneas,

um ihn auszuſpähen, ob er nicht, irgendwo geſtrandet,
in Wäldern oder in Städten umherirrt.“

Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Be¬
gierde, den Nebel zu durchbrechen, als ſie ſolches hörten.
„Hörſt du es, Sohn der Göttin,“ flüſterte zuerſt Achates
ſeinem erhabenen Freunde zu, „die Schiffe, die Freunde
Alle ſind gerettet; nur Einer fehlt, den wir ſelbſt ins Meer
ſinken ſahen; ſonſt entſpricht Alles den Verheißungen
deiner Mutter.“ Kaum war dieſes geſprochen, als die
Nebelwolke ſich von ſelbſt theilte und in den offenen
Aether verſchwand. Da ſtand nun Aeneas im heiteren
Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glän¬
zend: ſeine Mutter hatte ihm ſchönes wallendes Locken¬
haar auf Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die
Wangen, und in das heitere Auge den Strahl der Huld
gezaubert. Wie ein Wunder ſtand er vor Allen da,
wandte ſich zur Königin und ſprach: „Da bin ich, nach
dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich
der Trojaner Aeneas! Edle, großmüthige Königin, die
du die Trümmer deines unglücklichen Volkes erbarmungs¬
voll in deine Stadt aufgenommen haſt, keiner von allen
Trojanern, die über die ganze Erde zerſtreut ſind, kann
dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmli¬
ſchen vergelten! Selig ſind die Eltern, die dich gezeugt
haben! ſo lange die Erde ſtehet, wird dein Name bei
uns von Ruhme ſtrahlen, welches Land uns auch rufen
mag!“ So ſprach Aeneas und eilte auf ſeine Freunde
zu, die Rechte, die Linke ihnen in die Wette darreichend.
Als ſich Dido vom erſten Erſtaunen erholt hatte, ſprach
ſie: „Sohn der Göttin, welches Schickſal verfolgt dich
durch ſolche Gefahren? Du biſt alſo jener Aeneas,

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[325/0347] um ihn auszuſpähen, ob er nicht, irgendwo geſtrandet, in Wäldern oder in Städten umherirrt.“ Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Be¬ gierde, den Nebel zu durchbrechen, als ſie ſolches hörten. „Hörſt du es, Sohn der Göttin,“ flüſterte zuerſt Achates ſeinem erhabenen Freunde zu, „die Schiffe, die Freunde Alle ſind gerettet; nur Einer fehlt, den wir ſelbſt ins Meer ſinken ſahen; ſonſt entſpricht Alles den Verheißungen deiner Mutter.“ Kaum war dieſes geſprochen, als die Nebelwolke ſich von ſelbſt theilte und in den offenen Aether verſchwand. Da ſtand nun Aeneas im heiteren Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glän¬ zend: ſeine Mutter hatte ihm ſchönes wallendes Locken¬ haar auf Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die Wangen, und in das heitere Auge den Strahl der Huld gezaubert. Wie ein Wunder ſtand er vor Allen da, wandte ſich zur Königin und ſprach: „Da bin ich, nach dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich der Trojaner Aeneas! Edle, großmüthige Königin, die du die Trümmer deines unglücklichen Volkes erbarmungs¬ voll in deine Stadt aufgenommen haſt, keiner von allen Trojanern, die über die ganze Erde zerſtreut ſind, kann dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmli¬ ſchen vergelten! Selig ſind die Eltern, die dich gezeugt haben! ſo lange die Erde ſtehet, wird dein Name bei uns von Ruhme ſtrahlen, welches Land uns auch rufen mag!“ So ſprach Aeneas und eilte auf ſeine Freunde zu, die Rechte, die Linke ihnen in die Wette darreichend. Als ſich Dido vom erſten Erſtaunen erholt hatte, ſprach ſie: „Sohn der Göttin, welches Schickſal verfolgt dich durch ſolche Gefahren? Du biſt alſo jener Aeneas,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/347>, abgerufen am 22.11.2024.