Wäldchen hatte sich Aeneas begeben, um die frisch er¬ richteten Rasenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken. Da erfuhr er ein Grausen erregendes Wunder. Sobald er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen aus diesen schwarze Blutstropfen und floßen auf den grünen Waldboden, daß dem Helden selbst in den Adern das Blut erstarrte. Angstvoll warf sich Aeneas auf die Erde und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus, dem Schutzgotte der thracischen Fluren, die Schrecken ab¬ zuwenden, mit welchen dieses Wunderzeichen ihm drohte. Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬ chen, und mit dem Knie auf dem Boden gestemmt, ver¬ suchte er, es zu entwurzeln. Da ließ sich ein klägliches Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen sprach: "Was quälest du mich, unglücklicher Aeneas? meine Seele wohnt in diesem Boden, in den Wurzeln und Aesten dieses Waldes, in welchem ich als Kind einst ahnungs¬ los spielte. Ich bin dein Namensgenosse, dein Verwandter, Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der einst von seinem Pflegevater an die Griechen verrathen und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerschmet¬ tert ward. Mein Gebein ist von mitleidigen Thraciern gesammelt und hier im Vaterlande bestattet worden. Verletze meine Freistätte nicht, du selbst aber fliehe dieses Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht, denn noch herrscht das Geschlecht des Verräthers in diesem Lande."
Als Aeneas sich vom ersten Schrecken erholt hatte, kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬ sicht zuerst seinem Vater, und dann den andern Häuptlingen
Wäldchen hatte ſich Aeneas begeben, um die friſch er¬ richteten Raſenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken. Da erfuhr er ein Grauſen erregendes Wunder. Sobald er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen aus dieſen ſchwarze Blutstropfen und floßen auf den grünen Waldboden, daß dem Helden ſelbſt in den Adern das Blut erſtarrte. Angſtvoll warf ſich Aeneas auf die Erde und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus, dem Schutzgotte der thraciſchen Fluren, die Schrecken ab¬ zuwenden, mit welchen dieſes Wunderzeichen ihm drohte. Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬ chen, und mit dem Knie auf dem Boden geſtemmt, ver¬ ſuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ ſich ein klägliches Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen ſprach: „Was quäleſt du mich, unglücklicher Aeneas? meine Seele wohnt in dieſem Boden, in den Wurzeln und Aeſten dieſes Waldes, in welchem ich als Kind einſt ahnungs¬ los ſpielte. Ich bin dein Namensgenoſſe, dein Verwandter, Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der einſt von ſeinem Pflegevater an die Griechen verrathen und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerſchmet¬ tert ward. Mein Gebein iſt von mitleidigen Thraciern geſammelt und hier im Vaterlande beſtattet worden. Verletze meine Freiſtätte nicht, du ſelbſt aber fliehe dieſes Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht, denn noch herrſcht das Geſchlecht des Verräthers in dieſem Lande.“
Als Aeneas ſich vom erſten Schrecken erholt hatte, kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬ ſicht zuerſt ſeinem Vater, und dann den andern Häuptlingen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0317"n="295"/>
Wäldchen hatte ſich Aeneas begeben, um die friſch er¬<lb/>
richteten Raſenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken.<lb/>
Da erfuhr er ein Grauſen erregendes Wunder. Sobald<lb/>
er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen<lb/>
aus dieſen ſchwarze Blutstropfen und floßen auf den<lb/>
grünen Waldboden, daß dem Helden ſelbſt in den Adern<lb/>
das Blut erſtarrte. Angſtvoll warf ſich Aeneas auf die Erde<lb/>
und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus,<lb/>
dem Schutzgotte der thraciſchen Fluren, die Schrecken ab¬<lb/>
zuwenden, mit welchen dieſes Wunderzeichen ihm drohte.<lb/>
Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬<lb/>
chen, und mit dem Knie auf dem Boden geſtemmt, ver¬<lb/>ſuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ ſich ein klägliches<lb/>
Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam<lb/>
ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen<lb/>ſprach: „Was quäleſt du mich, unglücklicher Aeneas? meine<lb/>
Seele wohnt in dieſem Boden, in den Wurzeln und Aeſten<lb/>
dieſes Waldes, in welchem ich als Kind einſt ahnungs¬<lb/>
los ſpielte. Ich bin dein Namensgenoſſe, dein Verwandter,<lb/>
Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der<lb/>
einſt von ſeinem Pflegevater an die Griechen verrathen<lb/>
und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerſchmet¬<lb/>
tert ward. Mein Gebein iſt von mitleidigen Thraciern<lb/>
geſammelt und hier im Vaterlande beſtattet worden.<lb/>
Verletze meine Freiſtätte nicht, du ſelbſt aber fliehe dieſes<lb/>
Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht,<lb/>
denn noch herrſcht das Geſchlecht des Verräthers in<lb/>
dieſem Lande.“</p><lb/><p>Als Aeneas ſich vom erſten Schrecken erholt hatte,<lb/>
kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬<lb/>ſicht zuerſt ſeinem Vater, und dann den andern Häuptlingen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[295/0317]
Wäldchen hatte ſich Aeneas begeben, um die friſch er¬
richteten Raſenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken.
Da erfuhr er ein Grauſen erregendes Wunder. Sobald
er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen
aus dieſen ſchwarze Blutstropfen und floßen auf den
grünen Waldboden, daß dem Helden ſelbſt in den Adern
das Blut erſtarrte. Angſtvoll warf ſich Aeneas auf die Erde
und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus,
dem Schutzgotte der thraciſchen Fluren, die Schrecken ab¬
zuwenden, mit welchen dieſes Wunderzeichen ihm drohte.
Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬
chen, und mit dem Knie auf dem Boden geſtemmt, ver¬
ſuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ ſich ein klägliches
Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam
ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen
ſprach: „Was quäleſt du mich, unglücklicher Aeneas? meine
Seele wohnt in dieſem Boden, in den Wurzeln und Aeſten
dieſes Waldes, in welchem ich als Kind einſt ahnungs¬
los ſpielte. Ich bin dein Namensgenoſſe, dein Verwandter,
Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der
einſt von ſeinem Pflegevater an die Griechen verrathen
und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerſchmet¬
tert ward. Mein Gebein iſt von mitleidigen Thraciern
geſammelt und hier im Vaterlande beſtattet worden.
Verletze meine Freiſtätte nicht, du ſelbſt aber fliehe dieſes
Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht,
denn noch herrſcht das Geſchlecht des Verräthers in
dieſem Lande.“
Als Aeneas ſich vom erſten Schrecken erholt hatte,
kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬
ſicht zuerſt ſeinem Vater, und dann den andern Häuptlingen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/317>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.