Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

bewirthete den werthen Freund aufs allerbeste und reichte
ihm ein stattliches Ehrengeschenk, als er von mir schied:
sieben Talente des feinsten Goldes, einen silbernen Krug
mit den schönsten Blumengewinden vom selben Metall, zwölf
Teppiche, ebensoviele Leibröcke und Mäntel, und vier
schmucke kunstbegabte Mägde, die er sich selbst auslesen
durfte."

So fabelte der erfindungsreiche Odysseus. Sein Va¬
ter aber hatte bei dieser Nachricht das Haupt vom Boden
aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten,
und er sprach: "Freilich, guter Fremdling, bist du in das
Land gekommen, nach welchem du frägst. Aber es wohnen
muthwillige, frevelhafte Menschen darin, die du mit allen
deinen Geschenken nicht zu ersättigen vermöchtest. Der
Mann, welchen du suchst, ist nicht mehr da. Hättest
du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich
hätte er deine schönen Geschenke dir vergolten! Aber
sage mir, wie lang ist es her, daß dein unglücklicher
Gastfreund, mein Sohn, dich besucht hat? Denn er
ist es gewesen, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht
irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder dessen Fleisch
die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben.
Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen,
nicht seine edle Gattin Penelope hat schluchzend am
Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt!
Aber wer und woher bist denn du, wo ist dein Schiff,
wo sind deine Genossen? Oder kamst du auf einem ge¬
dungenen Fahrzeug als Reisender, und bist allein an
unserm Ufer ausgestiegen?"

"Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis,"
antwortete Odysseus, "ich bin Eperitus, der Sohn des

bewirthete den werthen Freund aufs allerbeſte und reichte
ihm ein ſtattliches Ehrengeſchenk, als er von mir ſchied:
ſieben Talente des feinſten Goldes, einen ſilbernen Krug
mit den ſchönſten Blumengewinden vom ſelben Metall, zwölf
Teppiche, ebenſoviele Leibröcke und Mäntel, und vier
ſchmucke kunſtbegabte Mägde, die er ſich ſelbſt ausleſen
durfte.“

So fabelte der erfindungsreiche Odyſſeus. Sein Va¬
ter aber hatte bei dieſer Nachricht das Haupt vom Boden
aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten,
und er ſprach: „Freilich, guter Fremdling, biſt du in das
Land gekommen, nach welchem du frägſt. Aber es wohnen
muthwillige, frevelhafte Menſchen darin, die du mit allen
deinen Geſchenken nicht zu erſättigen vermöchteſt. Der
Mann, welchen du ſuchſt, iſt nicht mehr da. Hätteſt
du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich
hätte er deine ſchönen Geſchenke dir vergolten! Aber
ſage mir, wie lang iſt es her, daß dein unglücklicher
Gaſtfreund, mein Sohn, dich beſucht hat? Denn er
iſt es geweſen, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht
irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder deſſen Fleiſch
die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben.
Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen,
nicht ſeine edle Gattin Penelope hat ſchluchzend am
Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt!
Aber wer und woher biſt denn du, wo iſt dein Schiff,
wo ſind deine Genoſſen? Oder kamſt du auf einem ge¬
dungenen Fahrzeug als Reiſender, und biſt allein an
unſerm Ufer ausgeſtiegen?“

„Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis,“
antwortete Odyſſeus, „ich bin Eperitus, der Sohn des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0301" n="279"/>
bewirthete den werthen Freund aufs allerbe&#x017F;te und reichte<lb/>
ihm ein &#x017F;tattliches Ehrenge&#x017F;chenk, als er von mir &#x017F;chied:<lb/>
&#x017F;ieben Talente des fein&#x017F;ten Goldes, einen &#x017F;ilbernen Krug<lb/>
mit den &#x017F;chön&#x017F;ten Blumengewinden vom &#x017F;elben Metall, zwölf<lb/>
Teppiche, eben&#x017F;oviele Leibröcke und Mäntel, und vier<lb/>
&#x017F;chmucke kun&#x017F;tbegabte Mägde, die er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ausle&#x017F;en<lb/>
durfte.&#x201C;</p><lb/>
            <p>So fabelte der erfindungsreiche Ody&#x017F;&#x017F;eus. Sein Va¬<lb/>
ter aber hatte bei die&#x017F;er Nachricht das Haupt vom Boden<lb/>
aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten,<lb/>
und er &#x017F;prach: &#x201E;Freilich, guter Fremdling, bi&#x017F;t du in das<lb/>
Land gekommen, nach welchem du fräg&#x017F;t. Aber es wohnen<lb/>
muthwillige, frevelhafte Men&#x017F;chen darin, die du mit allen<lb/>
deinen Ge&#x017F;chenken nicht zu er&#x017F;ättigen vermöchte&#x017F;t. Der<lb/>
Mann, welchen du &#x017F;uch&#x017F;t, i&#x017F;t nicht mehr da. Hätte&#x017F;t<lb/>
du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich<lb/>
hätte er deine &#x017F;chönen Ge&#x017F;chenke dir vergolten! Aber<lb/>
&#x017F;age mir, wie lang i&#x017F;t es her, daß dein unglücklicher<lb/>
Ga&#x017F;tfreund, mein Sohn, dich be&#x017F;ucht hat? Denn er<lb/>
i&#x017F;t es gewe&#x017F;en, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht<lb/>
irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder de&#x017F;&#x017F;en Flei&#x017F;ch<lb/>
die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben.<lb/>
Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen,<lb/>
nicht &#x017F;eine edle Gattin Penelope hat &#x017F;chluchzend am<lb/>
Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt!<lb/>
Aber wer und woher bi&#x017F;t denn du, wo i&#x017F;t dein Schiff,<lb/>
wo &#x017F;ind deine Geno&#x017F;&#x017F;en? Oder kam&#x017F;t du auf einem ge¬<lb/>
dungenen Fahrzeug als Rei&#x017F;ender, und bi&#x017F;t allein an<lb/>
un&#x017F;erm Ufer ausge&#x017F;tiegen?&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis,&#x201C;<lb/>
antwortete Ody&#x017F;&#x017F;eus, &#x201E;ich bin Eperitus, der Sohn des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[279/0301] bewirthete den werthen Freund aufs allerbeſte und reichte ihm ein ſtattliches Ehrengeſchenk, als er von mir ſchied: ſieben Talente des feinſten Goldes, einen ſilbernen Krug mit den ſchönſten Blumengewinden vom ſelben Metall, zwölf Teppiche, ebenſoviele Leibröcke und Mäntel, und vier ſchmucke kunſtbegabte Mägde, die er ſich ſelbſt ausleſen durfte.“ So fabelte der erfindungsreiche Odyſſeus. Sein Va¬ ter aber hatte bei dieſer Nachricht das Haupt vom Boden aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten, und er ſprach: „Freilich, guter Fremdling, biſt du in das Land gekommen, nach welchem du frägſt. Aber es wohnen muthwillige, frevelhafte Menſchen darin, die du mit allen deinen Geſchenken nicht zu erſättigen vermöchteſt. Der Mann, welchen du ſuchſt, iſt nicht mehr da. Hätteſt du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich hätte er deine ſchönen Geſchenke dir vergolten! Aber ſage mir, wie lang iſt es her, daß dein unglücklicher Gaſtfreund, mein Sohn, dich beſucht hat? Denn er iſt es geweſen, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder deſſen Fleiſch die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben. Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen, nicht ſeine edle Gattin Penelope hat ſchluchzend am Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt! Aber wer und woher biſt denn du, wo iſt dein Schiff, wo ſind deine Genoſſen? Oder kamſt du auf einem ge¬ dungenen Fahrzeug als Reiſender, und biſt allein an unſerm Ufer ausgeſtiegen?“ „Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis,“ antwortete Odyſſeus, „ich bin Eperitus, der Sohn des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/301
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/301>, abgerufen am 25.11.2024.