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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Augen dasjenige sehen, worauf du von Tag zu Tage
gewartet hast: Odysseus ist daheim; Odysseus ist endlich
im Palaste! Er hat die trotzigen Freier, die dich so
sehr geängstigt, die seine Habe verzehrten, die seinen
Sohn beschimpften -- er hat sie erschlagen!"

Penelope rieb sich den Schlummer aus den Augen
und sagte: "Mütterchen, du bist eine Thörin; die Götter
haben dich mit Blödsinn geschlagen. Was weckst du
mich mit deiner lügenhaften Botschaft aus dem sanftesten
Schlummer? Seit Odysseus ausgefahren ist, habe ich
nicht mehr so fest geschlafen! Hätte mich eine Andere
mit diesem Mährchen getäuscht, ich würde sie nicht nur
mit scheltenden Worten fortschicken; und auch dich schützt
nur dein Alter; aber auf der Stelle geh' mir hinunter
in den Saal."

"Tochter, spotte nicht," entgegnete die Schaffnerin,
"der Fremdling ist's, der Bettler, dessen Alle im Saale
spotteten. Dein Sohn Telemach wußte es längst, aber
er sollte das Geheimniß verbergen, bis Rache an den
Freiern genommen war."

Als sie solches hörte, sprang die Fürstin vom Lager,
und schmiegte sich an die Alte, und unter einem Strome
von Thränen sprach sie: "Mütterchen, wenn du wirklich
die Wahrheit redest, wenn Odysseus wirklich im Palast
ist: sage mir, wie bewältigte er die Freier, die zahllos
versammelten?" "Ich selber habe es weder gesehen noch
gehört," antwortete Euryklea, "denn wir Frauen saßen
voll Angst in den festverschlossenen Gemächern; aber das
Aechzen hörte ich wohl; und als mich endlich dein Sohn
herbeirief, da fand ich deinen Gemahl dastehen, von

Augen dasjenige ſehen, worauf du von Tag zu Tage
gewartet haſt: Odyſſeus iſt daheim; Odyſſeus iſt endlich
im Palaſte! Er hat die trotzigen Freier, die dich ſo
ſehr geängſtigt, die ſeine Habe verzehrten, die ſeinen
Sohn beſchimpften — er hat ſie erſchlagen!“

Penelope rieb ſich den Schlummer aus den Augen
und ſagte: „Mütterchen, du biſt eine Thörin; die Götter
haben dich mit Blödſinn geſchlagen. Was weckſt du
mich mit deiner lügenhaften Botſchaft aus dem ſanfteſten
Schlummer? Seit Odyſſeus ausgefahren iſt, habe ich
nicht mehr ſo feſt geſchlafen! Hätte mich eine Andere
mit dieſem Mährchen getäuſcht, ich würde ſie nicht nur
mit ſcheltenden Worten fortſchicken; und auch dich ſchützt
nur dein Alter; aber auf der Stelle geh' mir hinunter
in den Saal.“

„Tochter, ſpotte nicht,“ entgegnete die Schaffnerin,
„der Fremdling iſt's, der Bettler, deſſen Alle im Saale
ſpotteten. Dein Sohn Telemach wußte es längſt, aber
er ſollte das Geheimniß verbergen, bis Rache an den
Freiern genommen war.“

Als ſie ſolches hörte, ſprang die Fürſtin vom Lager,
und ſchmiegte ſich an die Alte, und unter einem Strome
von Thränen ſprach ſie: „Mütterchen, wenn du wirklich
die Wahrheit redeſt, wenn Odyſſeus wirklich im Palaſt
iſt: ſage mir, wie bewältigte er die Freier, die zahllos
verſammelten?“ „Ich ſelber habe es weder geſehen noch
gehört,“ antwortete Euryklea, „denn wir Frauen ſaßen
voll Angſt in den feſtverſchloſſenen Gemächern; aber das
Aechzen hörte ich wohl; und als mich endlich dein Sohn
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[270/0292] Augen dasjenige ſehen, worauf du von Tag zu Tage gewartet haſt: Odyſſeus iſt daheim; Odyſſeus iſt endlich im Palaſte! Er hat die trotzigen Freier, die dich ſo ſehr geängſtigt, die ſeine Habe verzehrten, die ſeinen Sohn beſchimpften — er hat ſie erſchlagen!“ Penelope rieb ſich den Schlummer aus den Augen und ſagte: „Mütterchen, du biſt eine Thörin; die Götter haben dich mit Blödſinn geſchlagen. Was weckſt du mich mit deiner lügenhaften Botſchaft aus dem ſanfteſten Schlummer? Seit Odyſſeus ausgefahren iſt, habe ich nicht mehr ſo feſt geſchlafen! Hätte mich eine Andere mit dieſem Mährchen getäuſcht, ich würde ſie nicht nur mit ſcheltenden Worten fortſchicken; und auch dich ſchützt nur dein Alter; aber auf der Stelle geh' mir hinunter in den Saal.“ „Tochter, ſpotte nicht,“ entgegnete die Schaffnerin, „der Fremdling iſt's, der Bettler, deſſen Alle im Saale ſpotteten. Dein Sohn Telemach wußte es längſt, aber er ſollte das Geheimniß verbergen, bis Rache an den Freiern genommen war.“ Als ſie ſolches hörte, ſprang die Fürſtin vom Lager, und ſchmiegte ſich an die Alte, und unter einem Strome von Thränen ſprach ſie: „Mütterchen, wenn du wirklich die Wahrheit redeſt, wenn Odyſſeus wirklich im Palaſt iſt: ſage mir, wie bewältigte er die Freier, die zahllos verſammelten?“ „Ich ſelber habe es weder geſehen noch gehört,“ antwortete Euryklea, „denn wir Frauen ſaßen voll Angſt in den feſtverſchloſſenen Gemächern; aber das Aechzen hörte ich wohl; und als mich endlich dein Sohn herbeirief, da fand ich deinen Gemahl daſtehen, von

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/292>, abgerufen am 25.11.2024.