Streiter: es war Athene in Mentors Gestalt, und Odys¬ seus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf: "Mentor, ich sage dir, laß dich durch Odysseus nicht verleiten, die Freier zu bekriegen, sonst ermorden wir mit Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus." Athene enbrannte bei diesen Worten, sie spornte den Odysseus an und sprach: "Dein Muth scheint mir nicht mehr derselbe zu seyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre lang vor Troja bewiesest. Durch deinen Rath sank diese Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬ math Palast und Gut zu vertheidigen, zagest du den Freiern gegenüber?" So sprach sie, seinen Muth an¬ zufeuern, für ihn zu streiten gedachte sie nicht. Denn plötzlich schwang sie sich in Vogelgestalt empor, und saß, einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der Decke. "Mentor ist wieder hinweggegangen, der Prahler," rief Agelaus seinen Freunden zu, "die Viere sind wieder allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht Alle zugleich werfet eure Lanzen, sondern ihr Sechse da zuerst; und zielet mir fein Alle nur auf Odysseus: liegt er nur erst, so kümmern uns die Andern wenig!" Aber Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen Lanze durchbohrte den Pfosten; des andern fuhr in die Thür, andern blieb sie in der Wand stecken. Jetzt rief Odysseus seinen Freunden zu: "Wohl gezielt und ge¬ schossen!" und alle Vier schickten ihre Lanzen ab, und keiner fehlte: Odysseus traf den Demoptolemus, Tele¬ mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬ derhirt den Pisander, welche miteinander in den Staub sanken. Einen Augenblick flüchteten sich die noch übrigen
Streiter: es war Athene in Mentors Geſtalt, und Odyſ¬ ſeus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf: „Mentor, ich ſage dir, laß dich durch Odyſſeus nicht verleiten, die Freier zu bekriegen, ſonſt ermorden wir mit Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus.“ Athene enbrannte bei dieſen Worten, ſie ſpornte den Odyſſeus an und ſprach: „Dein Muth ſcheint mir nicht mehr derſelbe zu ſeyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre lang vor Troja bewieſeſt. Durch deinen Rath ſank dieſe Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬ math Palaſt und Gut zu vertheidigen, zageſt du den Freiern gegenüber?“ So ſprach ſie, ſeinen Muth an¬ zufeuern, für ihn zu ſtreiten gedachte ſie nicht. Denn plötzlich ſchwang ſie ſich in Vogelgeſtalt empor, und ſaß, einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der Decke. „Mentor iſt wieder hinweggegangen, der Prahler,“ rief Agelaus ſeinen Freunden zu, „die Viere ſind wieder allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht Alle zugleich werfet eure Lanzen, ſondern ihr Sechſe da zuerſt; und zielet mir fein Alle nur auf Odyſſeus: liegt er nur erſt, ſo kümmern uns die Andern wenig!“ Aber Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen Lanze durchbohrte den Pfoſten; des andern fuhr in die Thür, andern blieb ſie in der Wand ſtecken. Jetzt rief Odyſſeus ſeinen Freunden zu: „Wohl gezielt und ge¬ ſchoſſen!“ und alle Vier ſchickten ihre Lanzen ab, und keiner fehlte: Odyſſeus traf den Demoptolemus, Tele¬ mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬ derhirt den Piſander, welche miteinander in den Staub ſanken. Einen Augenblick flüchteten ſich die noch übrigen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0286"n="264"/>
Streiter: es war Athene in Mentors Geſtalt, und Odyſ¬<lb/>ſeus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den<lb/>
neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf:<lb/>„Mentor, ich ſage dir, laß dich durch Odyſſeus nicht<lb/>
verleiten, die Freier zu bekriegen, ſonſt ermorden wir mit<lb/>
Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus.“<lb/>
Athene enbrannte bei dieſen Worten, ſie ſpornte den<lb/>
Odyſſeus an und ſprach: „Dein Muth ſcheint mir nicht<lb/>
mehr derſelbe zu ſeyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre<lb/>
lang vor Troja bewieſeſt. Durch deinen Rath ſank dieſe<lb/>
Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬<lb/>
math Palaſt und Gut zu vertheidigen, zageſt du den<lb/>
Freiern gegenüber?“ So ſprach ſie, ſeinen Muth an¬<lb/>
zufeuern, für ihn zu ſtreiten gedachte ſie nicht. Denn<lb/>
plötzlich ſchwang ſie ſich in Vogelgeſtalt empor, und ſaß,<lb/>
einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der<lb/>
Decke. „Mentor iſt wieder hinweggegangen, der Prahler,“<lb/>
rief Agelaus ſeinen Freunden zu, „die Viere ſind wieder<lb/>
allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht<lb/>
Alle zugleich werfet eure Lanzen, ſondern ihr Sechſe da<lb/>
zuerſt; und zielet mir fein Alle nur auf Odyſſeus: liegt<lb/>
er nur erſt, ſo kümmern uns die Andern wenig!“ Aber<lb/>
Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen<lb/>
Lanze durchbohrte den Pfoſten; des andern fuhr in die<lb/>
Thür, andern blieb ſie in der Wand ſtecken. Jetzt rief<lb/>
Odyſſeus ſeinen Freunden zu: „Wohl gezielt und ge¬<lb/>ſchoſſen!“ und alle Vier ſchickten ihre Lanzen ab, und<lb/>
keiner fehlte: Odyſſeus traf den Demoptolemus, Tele¬<lb/>
mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬<lb/>
derhirt den Piſander, welche miteinander in den Staub<lb/>ſanken. Einen Augenblick flüchteten ſich die noch übrigen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[264/0286]
Streiter: es war Athene in Mentors Geſtalt, und Odyſ¬
ſeus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den
neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf:
„Mentor, ich ſage dir, laß dich durch Odyſſeus nicht
verleiten, die Freier zu bekriegen, ſonſt ermorden wir mit
Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus.“
Athene enbrannte bei dieſen Worten, ſie ſpornte den
Odyſſeus an und ſprach: „Dein Muth ſcheint mir nicht
mehr derſelbe zu ſeyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre
lang vor Troja bewieſeſt. Durch deinen Rath ſank dieſe
Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬
math Palaſt und Gut zu vertheidigen, zageſt du den
Freiern gegenüber?“ So ſprach ſie, ſeinen Muth an¬
zufeuern, für ihn zu ſtreiten gedachte ſie nicht. Denn
plötzlich ſchwang ſie ſich in Vogelgeſtalt empor, und ſaß,
einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der
Decke. „Mentor iſt wieder hinweggegangen, der Prahler,“
rief Agelaus ſeinen Freunden zu, „die Viere ſind wieder
allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht
Alle zugleich werfet eure Lanzen, ſondern ihr Sechſe da
zuerſt; und zielet mir fein Alle nur auf Odyſſeus: liegt
er nur erſt, ſo kümmern uns die Andern wenig!“ Aber
Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen
Lanze durchbohrte den Pfoſten; des andern fuhr in die
Thür, andern blieb ſie in der Wand ſtecken. Jetzt rief
Odyſſeus ſeinen Freunden zu: „Wohl gezielt und ge¬
ſchoſſen!“ und alle Vier ſchickten ihre Lanzen ab, und
keiner fehlte: Odyſſeus traf den Demoptolemus, Tele¬
mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬
derhirt den Piſander, welche miteinander in den Staub
ſanken. Einen Augenblick flüchteten ſich die noch übrigen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/286>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.