Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschenke eines lacedämonischen Gastfreundes. Als Pene¬
lope die Pforte aufgeschlossen, schob sie die Riegel zurück.
Diese krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬
flügel öffneten sich, und Penelope trat ein und musterte
die Kästen, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen.
Da fand sie auch Bogen und Köcher an einem Nagel
hängen, streckte sich und nahm beide herab. Der Schmerz
überwältigte sie, sie warf sich auf einen Stuhl, und
Bogen und Köcher auf dem Schooße, saß sie lang in
Thränen da. Endlich erhob sie sich; die Waffen wur¬
den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen
folgten. So trat sie mitten unter die Freier in den
Saal, ließ Stille gebieten, und sprach: "Wohlan, ihr
Freier, wer mich erwerben will, der gürte sich, es gilt
jetzt einen Wettkampf! Hier ist der große Bogen meines
erhabenen Gemahls: wer ihn am leichtesten spannt, und
durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgestellten
Aexten hinschnellt, dem will ich folgen als seine Gemah¬
lin, will diesen Palast meines ersten Gatten mit ihm
verlassen."

Hierauf befahl sie dem Sauhirten, den Freiern
Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus
die Waffen aus der Lade, und breitete sie vor den
Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das
ärgerte den Antinous. "Dumme Bauern," schalt er,
"was macht ihr mit euren Thränen unserer Königin das
Herz schwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor
der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns
an den schweren Wettstreit machen; denn diesen Bogen
da zu spannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter
uns Allen ist kein Mann wie Odysseus, ich erinnere

Geſchenke eines lacedämoniſchen Gaſtfreundes. Als Pene¬
lope die Pforte aufgeſchloſſen, ſchob ſie die Riegel zurück.
Dieſe krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬
flügel öffneten ſich, und Penelope trat ein und muſterte
die Käſten, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen.
Da fand ſie auch Bogen und Köcher an einem Nagel
hängen, ſtreckte ſich und nahm beide herab. Der Schmerz
überwältigte ſie, ſie warf ſich auf einen Stuhl, und
Bogen und Köcher auf dem Schooße, ſaß ſie lang in
Thränen da. Endlich erhob ſie ſich; die Waffen wur¬
den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen
folgten. So trat ſie mitten unter die Freier in den
Saal, ließ Stille gebieten, und ſprach: „Wohlan, ihr
Freier, wer mich erwerben will, der gürte ſich, es gilt
jetzt einen Wettkampf! Hier iſt der große Bogen meines
erhabenen Gemahls: wer ihn am leichteſten ſpannt, und
durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgeſtellten
Aexten hinſchnellt, dem will ich folgen als ſeine Gemah¬
lin, will dieſen Palaſt meines erſten Gatten mit ihm
verlaſſen.“

Hierauf befahl ſie dem Sauhirten, den Freiern
Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus
die Waffen aus der Lade, und breitete ſie vor den
Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das
ärgerte den Antinous. „Dumme Bauern,“ ſchalt er,
„was macht ihr mit euren Thränen unſerer Königin das
Herz ſchwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor
der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns
an den ſchweren Wettſtreit machen; denn dieſen Bogen
da zu ſpannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter
uns Allen iſt kein Mann wie Odyſſeus, ich erinnere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0273" n="251"/>
Ge&#x017F;chenke eines lacedämoni&#x017F;chen Ga&#x017F;tfreundes. Als Pene¬<lb/>
lope die Pforte aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;chob &#x017F;ie die Riegel zurück.<lb/>
Die&#x017F;e krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬<lb/>
flügel öffneten &#x017F;ich, und Penelope trat ein und mu&#x017F;terte<lb/>
die Kä&#x017F;ten, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen.<lb/>
Da fand &#x017F;ie auch Bogen und Köcher an einem Nagel<lb/>
hängen, &#x017F;treckte &#x017F;ich und nahm beide herab. Der Schmerz<lb/>
überwältigte &#x017F;ie, &#x017F;ie warf &#x017F;ich auf einen Stuhl, und<lb/>
Bogen und Köcher auf dem Schooße, &#x017F;&#x017F;ie lang in<lb/>
Thränen da. Endlich erhob &#x017F;ie &#x017F;ich; die Waffen wur¬<lb/>
den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen<lb/>
folgten. So trat &#x017F;ie mitten unter die Freier in den<lb/>
Saal, ließ Stille gebieten, und &#x017F;prach: &#x201E;Wohlan, ihr<lb/>
Freier, wer mich erwerben will, der gürte &#x017F;ich, es gilt<lb/>
jetzt einen Wettkampf! Hier i&#x017F;t der große Bogen meines<lb/>
erhabenen Gemahls: wer ihn am leichte&#x017F;ten &#x017F;pannt, und<lb/>
durch die Löcher von zwölf hintereinander aufge&#x017F;tellten<lb/>
Aexten hin&#x017F;chnellt, dem will ich folgen als &#x017F;eine Gemah¬<lb/>
lin, will die&#x017F;en Pala&#x017F;t meines er&#x017F;ten Gatten mit ihm<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Hierauf befahl &#x017F;ie dem Sauhirten, den Freiern<lb/>
Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus<lb/>
die Waffen aus der Lade, und breitete &#x017F;ie vor den<lb/>
Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das<lb/>
ärgerte den Antinous. &#x201E;Dumme Bauern,&#x201C; &#x017F;chalt er,<lb/>
&#x201E;was macht ihr mit euren Thränen un&#x017F;erer Königin das<lb/>
Herz &#x017F;chwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor<lb/>
der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns<lb/>
an den &#x017F;chweren Wett&#x017F;treit machen; denn die&#x017F;en Bogen<lb/>
da zu &#x017F;pannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter<lb/>
uns Allen i&#x017F;t kein Mann wie Ody&#x017F;&#x017F;eus, ich erinnere<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0273] Geſchenke eines lacedämoniſchen Gaſtfreundes. Als Pene¬ lope die Pforte aufgeſchloſſen, ſchob ſie die Riegel zurück. Dieſe krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬ flügel öffneten ſich, und Penelope trat ein und muſterte die Käſten, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen. Da fand ſie auch Bogen und Köcher an einem Nagel hängen, ſtreckte ſich und nahm beide herab. Der Schmerz überwältigte ſie, ſie warf ſich auf einen Stuhl, und Bogen und Köcher auf dem Schooße, ſaß ſie lang in Thränen da. Endlich erhob ſie ſich; die Waffen wur¬ den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen folgten. So trat ſie mitten unter die Freier in den Saal, ließ Stille gebieten, und ſprach: „Wohlan, ihr Freier, wer mich erwerben will, der gürte ſich, es gilt jetzt einen Wettkampf! Hier iſt der große Bogen meines erhabenen Gemahls: wer ihn am leichteſten ſpannt, und durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgeſtellten Aexten hinſchnellt, dem will ich folgen als ſeine Gemah¬ lin, will dieſen Palaſt meines erſten Gatten mit ihm verlaſſen.“ Hierauf befahl ſie dem Sauhirten, den Freiern Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus die Waffen aus der Lade, und breitete ſie vor den Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das ärgerte den Antinous. „Dumme Bauern,“ ſchalt er, „was macht ihr mit euren Thränen unſerer Königin das Herz ſchwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns an den ſchweren Wettſtreit machen; denn dieſen Bogen da zu ſpannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter uns Allen iſt kein Mann wie Odyſſeus, ich erinnere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/273
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/273>, abgerufen am 25.11.2024.