Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da
du doch so klug zu seyn scheinst. Ich habe zwanzig
Gänse im Hause, und sehe ihnen immer mit Lust zu,
wie sie ihren Waizen, mit Wasser gemischt, fressen.
Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge
her, und breche meinen Gänsen die Hälse; alle lagen
gemordet, wild durcheinander im Palast, der Raubvogel
aber schwang sich in die Lüfte. Ich fing laut an zu
schluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die
Frauen aus der Nachbarschaft, mich in meinem Grame zu
trösten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, setzte sich
auf das Gesimse, und fing an, mit Menschenstimme zu
reden: Sey getrost, sprach er, Ikarius Tochter, das ist
ein Gesicht und kein Traum: die Freier sind die Gänse,
ich selbst, der ich ein Adler war, bin Odysseus, ich bin
zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So sprach der
Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach
meinen Gänsen zu schauen, aber diese standen ganz ruhig
am Trog und fraßen." -- "Fürstin," erwiederte der ver¬
steckte Bettler, "es ist gewiß so, wie dir Odysseus im Traume
sagte, das Gesicht kann gar keine andere Bedeutung haben:
er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben."

Aber Penelope seufzte und sprach: "Träume sind
doch nur Schäume, und morgen kommt der entsetzliche
Tag, der mich vom Hause des Odysseus scheiden
wird. Da will ich den Wettkampf bestimmen; mein
Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander
aufzustellen; dann trat er in die Ferne zurück, und
schnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬
durch. Wer nun von den Freiern dieses Kunststück mit
des Odysseus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,

erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da
du doch ſo klug zu ſeyn ſcheinſt. Ich habe zwanzig
Gänſe im Hauſe, und ſehe ihnen immer mit Luſt zu,
wie ſie ihren Waizen, mit Waſſer gemiſcht, freſſen.
Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge
her, und breche meinen Gänſen die Hälſe; alle lagen
gemordet, wild durcheinander im Palaſt, der Raubvogel
aber ſchwang ſich in die Lüfte. Ich fing laut an zu
ſchluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die
Frauen aus der Nachbarſchaft, mich in meinem Grame zu
tröſten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, ſetzte ſich
auf das Geſimſe, und fing an, mit Menſchenſtimme zu
reden: Sey getroſt, ſprach er, Ikarius Tochter, das iſt
ein Geſicht und kein Traum: die Freier ſind die Gänſe,
ich ſelbſt, der ich ein Adler war, bin Odyſſeus, ich bin
zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So ſprach der
Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach
meinen Gänſen zu ſchauen, aber dieſe ſtanden ganz ruhig
am Trog und fraßen.“ — „Fürſtin,“ erwiederte der ver¬
ſteckte Bettler, „es iſt gewiß ſo, wie dir Odyſſeus im Traume
ſagte, das Geſicht kann gar keine andere Bedeutung haben:
er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.“

Aber Penelope ſeufzte und ſprach: „Träume ſind
doch nur Schäume, und morgen kommt der entſetzliche
Tag, der mich vom Hauſe des Odyſſeus ſcheiden
wird. Da will ich den Wettkampf beſtimmen; mein
Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander
aufzuſtellen; dann trat er in die Ferne zurück, und
ſchnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬
durch. Wer nun von den Freiern dieſes Kunſtſtück mit
des Odyſſeus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0264" n="242"/>
erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da<lb/>
du doch &#x017F;o klug zu &#x017F;eyn &#x017F;chein&#x017F;t. Ich habe zwanzig<lb/>
Gän&#x017F;e im Hau&#x017F;e, und &#x017F;ehe ihnen immer mit Lu&#x017F;t zu,<lb/>
wie &#x017F;ie ihren Waizen, mit Wa&#x017F;&#x017F;er gemi&#x017F;cht, fre&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge<lb/>
her, und breche meinen Gän&#x017F;en die Häl&#x017F;e; alle lagen<lb/>
gemordet, wild durcheinander im Pala&#x017F;t, der Raubvogel<lb/>
aber &#x017F;chwang &#x017F;ich in die Lüfte. Ich fing laut an zu<lb/>
&#x017F;chluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die<lb/>
Frauen aus der Nachbar&#x017F;chaft, mich in meinem Grame zu<lb/>
trö&#x017F;ten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, &#x017F;etzte &#x017F;ich<lb/>
auf das Ge&#x017F;im&#x017F;e, und fing an, mit Men&#x017F;chen&#x017F;timme zu<lb/>
reden: Sey getro&#x017F;t, &#x017F;prach er, Ikarius Tochter, das i&#x017F;t<lb/>
ein Ge&#x017F;icht und kein Traum: die Freier &#x017F;ind die Gän&#x017F;e,<lb/>
ich &#x017F;elb&#x017F;t, der ich ein Adler war, bin Ody&#x017F;&#x017F;eus, ich bin<lb/>
zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So &#x017F;prach der<lb/>
Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach<lb/>
meinen Gän&#x017F;en zu &#x017F;chauen, aber die&#x017F;e &#x017F;tanden ganz ruhig<lb/>
am Trog und fraßen.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Für&#x017F;tin,&#x201C; erwiederte der ver¬<lb/>
&#x017F;teckte Bettler, &#x201E;es i&#x017F;t gewiß &#x017F;o, wie dir Ody&#x017F;&#x017F;eus im Traume<lb/>
&#x017F;agte, das Ge&#x017F;icht kann gar keine andere Bedeutung haben:<lb/>
er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Aber Penelope &#x017F;eufzte und &#x017F;prach: &#x201E;Träume &#x017F;ind<lb/>
doch nur Schäume, und morgen kommt der ent&#x017F;etzliche<lb/>
Tag, der mich vom Hau&#x017F;e des Ody&#x017F;&#x017F;eus &#x017F;cheiden<lb/>
wird. Da will ich den Wettkampf be&#x017F;timmen; mein<lb/>
Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander<lb/>
aufzu&#x017F;tellen; dann trat er in die Ferne zurück, und<lb/>
&#x017F;chnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬<lb/>
durch. Wer nun von den Freiern die&#x017F;es Kun&#x017F;t&#x017F;tück mit<lb/>
des Ody&#x017F;&#x017F;eus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0264] erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da du doch ſo klug zu ſeyn ſcheinſt. Ich habe zwanzig Gänſe im Hauſe, und ſehe ihnen immer mit Luſt zu, wie ſie ihren Waizen, mit Waſſer gemiſcht, freſſen. Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge her, und breche meinen Gänſen die Hälſe; alle lagen gemordet, wild durcheinander im Palaſt, der Raubvogel aber ſchwang ſich in die Lüfte. Ich fing laut an zu ſchluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die Frauen aus der Nachbarſchaft, mich in meinem Grame zu tröſten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, ſetzte ſich auf das Geſimſe, und fing an, mit Menſchenſtimme zu reden: Sey getroſt, ſprach er, Ikarius Tochter, das iſt ein Geſicht und kein Traum: die Freier ſind die Gänſe, ich ſelbſt, der ich ein Adler war, bin Odyſſeus, ich bin zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So ſprach der Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach meinen Gänſen zu ſchauen, aber dieſe ſtanden ganz ruhig am Trog und fraßen.“ — „Fürſtin,“ erwiederte der ver¬ ſteckte Bettler, „es iſt gewiß ſo, wie dir Odyſſeus im Traume ſagte, das Geſicht kann gar keine andere Bedeutung haben: er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.“ Aber Penelope ſeufzte und ſprach: „Träume ſind doch nur Schäume, und morgen kommt der entſetzliche Tag, der mich vom Hauſe des Odyſſeus ſcheiden wird. Da will ich den Wettkampf beſtimmen; mein Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander aufzuſtellen; dann trat er in die Ferne zurück, und ſchnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬ durch. Wer nun von den Freiern dieſes Kunſtſtück mit des Odyſſeus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/264
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/264>, abgerufen am 25.11.2024.