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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Dienerinnen aus, und wollte nicht anders denn wie bisher
auf schlechtem Stroh liegen. "Nur wenn du ein altes
redliches Mütterchen hast, Königin," sprach er, "das
so viel im Leben duldete, wie ich selbst, das mag
mir die Füße waschen." "Nun so erhebe dich, ehrliche
Euryklea," rief Penelope, "wasche diesem da die Füße,
der gerade so alt ist, wie dein Herr. Ach," sagte sie
mit einem Blick auf den Bettler, "solche Füße, solche
Hände hat vielleicht jetzt auch Odysseus, pflegen doch
die Menschen im Unglück frühe zu altern!" Die alte
Schaffnerin weinte bei diesen Worten, und als sie sich
anschickte, dem Fremdlinge die Füße zu waschen, und
ihn nun schärfer ins Auge faßte, da sprach sie: "Es
haben uns schon viele Fremdlinge besucht, aber dem
Odysseus so ähnlich an Stimme, Gestalt und Füßen,
wie du, ist mir noch nie ein Mensch erschienen!" "Ja
das haben Alle gesagt, die uns beide gesehen," antwor¬
tete Odysseus gleichgültig, während er am Feuerheerde
saß, und sie die zum Fußwaschen bestimmte Wanne mit
kaltem und kochendem Wasser mischend füllte. Als sie
sich an die Arbeit machte, rückte Odysseus vorsichtig in's
Dunkel, denn er hatte von seiner frühen Jugend her
über dem rechten Kniee eine tiefe Narbe, wo ihm ein¬
mal aus einer Jagd ein Eber mit dem Zahne seitwärts
ins Fleisch gefahren war. An diesem Maal fürchtete
Odysseus von der Alten erkannt zu werden, und rückte
deßwegen mit den Füßen aus dem Licht. Aber es war
vergebens. Sowie die Schaffnerin mit den flachen Händen
über die Stelle fuhr, erkannte sie die Narbe unter dem
Druck und ließ vor Freude und Schrecken das Bein
in die Wanne gleiten, daß das Erz klang und das

Dienerinnen aus, und wollte nicht anders denn wie bisher
auf ſchlechtem Stroh liegen. „Nur wenn du ein altes
redliches Mütterchen haſt, Königin,“ ſprach er, „das
ſo viel im Leben duldete, wie ich ſelbſt, das mag
mir die Füße waſchen.“ „Nun ſo erhebe dich, ehrliche
Euryklea,“ rief Penelope, „waſche dieſem da die Füße,
der gerade ſo alt iſt, wie dein Herr. Ach,“ ſagte ſie
mit einem Blick auf den Bettler, „ſolche Füße, ſolche
Hände hat vielleicht jetzt auch Odyſſeus, pflegen doch
die Menſchen im Unglück frühe zu altern!“ Die alte
Schaffnerin weinte bei dieſen Worten, und als ſie ſich
anſchickte, dem Fremdlinge die Füße zu waſchen, und
ihn nun ſchärfer ins Auge faßte, da ſprach ſie: „Es
haben uns ſchon viele Fremdlinge beſucht, aber dem
Odyſſeus ſo ähnlich an Stimme, Geſtalt und Füßen,
wie du, iſt mir noch nie ein Menſch erſchienen!“ „Ja
das haben Alle geſagt, die uns beide geſehen,“ antwor¬
tete Odyſſeus gleichgültig, während er am Feuerheerde
ſaß, und ſie die zum Fußwaſchen beſtimmte Wanne mit
kaltem und kochendem Waſſer miſchend füllte. Als ſie
ſich an die Arbeit machte, rückte Odyſſeus vorſichtig in's
Dunkel, denn er hatte von ſeiner frühen Jugend her
über dem rechten Kniee eine tiefe Narbe, wo ihm ein¬
mal aus einer Jagd ein Eber mit dem Zahne ſeitwärts
ins Fleiſch gefahren war. An dieſem Maal fürchtete
Odyſſeus von der Alten erkannt zu werden, und rückte
deßwegen mit den Füßen aus dem Licht. Aber es war
vergebens. Sowie die Schaffnerin mit den flachen Händen
über die Stelle fuhr, erkannte ſie die Narbe unter dem
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in die Wanne gleiten, daß das Erz klang und das

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[240/0262] Dienerinnen aus, und wollte nicht anders denn wie bisher auf ſchlechtem Stroh liegen. „Nur wenn du ein altes redliches Mütterchen haſt, Königin,“ ſprach er, „das ſo viel im Leben duldete, wie ich ſelbſt, das mag mir die Füße waſchen.“ „Nun ſo erhebe dich, ehrliche Euryklea,“ rief Penelope, „waſche dieſem da die Füße, der gerade ſo alt iſt, wie dein Herr. Ach,“ ſagte ſie mit einem Blick auf den Bettler, „ſolche Füße, ſolche Hände hat vielleicht jetzt auch Odyſſeus, pflegen doch die Menſchen im Unglück frühe zu altern!“ Die alte Schaffnerin weinte bei dieſen Worten, und als ſie ſich anſchickte, dem Fremdlinge die Füße zu waſchen, und ihn nun ſchärfer ins Auge faßte, da ſprach ſie: „Es haben uns ſchon viele Fremdlinge beſucht, aber dem Odyſſeus ſo ähnlich an Stimme, Geſtalt und Füßen, wie du, iſt mir noch nie ein Menſch erſchienen!“ „Ja das haben Alle geſagt, die uns beide geſehen,“ antwor¬ tete Odyſſeus gleichgültig, während er am Feuerheerde ſaß, und ſie die zum Fußwaſchen beſtimmte Wanne mit kaltem und kochendem Waſſer miſchend füllte. Als ſie ſich an die Arbeit machte, rückte Odyſſeus vorſichtig in's Dunkel, denn er hatte von ſeiner frühen Jugend her über dem rechten Kniee eine tiefe Narbe, wo ihm ein¬ mal aus einer Jagd ein Eber mit dem Zahne ſeitwärts ins Fleiſch gefahren war. An dieſem Maal fürchtete Odyſſeus von der Alten erkannt zu werden, und rückte deßwegen mit den Füßen aus dem Licht. Aber es war vergebens. Sowie die Schaffnerin mit den flachen Händen über die Stelle fuhr, erkannte ſie die Narbe unter dem Druck und ließ vor Freude und Schrecken das Bein in die Wanne gleiten, daß das Erz klang und das

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/262>, abgerufen am 22.11.2024.