bist eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm ist groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du aber frage mich nach Allem, nur nicht nach meinem Geschlecht und nach meiner Heimath, ich habe zu viel Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte. Wenn ich es aufzählen sollte, so müßte ich trostlos kla¬ gen, und würde von den Dienerinnen, oder gar von dir selber mit Recht gescholten." Hierauf fuhr Penelope fort: "Du siehest, Fremdling, daß es auch mir nicht besser ergangen ist, seit mein geliebter Gemahl mich ver¬ lassen hat. Du kannst die Männer selbst zählen, die um mich werben und mich bedrängen, und denen ich seit drei Jahren durch eine List entgangen bin, die ich jetzt nicht mehr fortsetzen kann." Damit erzählte sie ihm von ihrem Gewebe, und wie der Betrug durch die Mägde entdeckt worden war. "Hinfort kann ich," endete sie, "der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Ver¬ schwendung seines Erbguts. So siehst du, wie es mir ergeht. Nun wohlan, verschweige mir auch dein Ge¬ schlecht nicht, Mann, du bist doch nicht der fabelhaften Eiche oder dem Felsen entsprossen!"
"Wenn du mich nöthigest," erwiederte Odysseus, "so will ich es dir wohl sagen." Und nun fing der Schalk an, sein altes Lügenmährchen von Kreta zu erzählen. Dieses sah der Wahrheit so ähnlich, daß Penelope in Thränen zerfloß, und es den Odysseus im innersten Herzen erbarmte. Dennoch standen ihm die Augensterne wie Horn oder Eisen unbeweglich unter den Augenliedern, und er war besonnen genug, die Thränen zurückzuhalten. Als die Königin lange genug geweint, begann sie von
biſt eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm iſt groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du aber frage mich nach Allem, nur nicht nach meinem Geſchlecht und nach meiner Heimath, ich habe zu viel Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte. Wenn ich es aufzählen ſollte, ſo müßte ich troſtlos kla¬ gen, und würde von den Dienerinnen, oder gar von dir ſelber mit Recht geſcholten.“ Hierauf fuhr Penelope fort: „Du ſieheſt, Fremdling, daß es auch mir nicht beſſer ergangen iſt, ſeit mein geliebter Gemahl mich ver¬ laſſen hat. Du kannſt die Männer ſelbſt zählen, die um mich werben und mich bedrängen, und denen ich ſeit drei Jahren durch eine Liſt entgangen bin, die ich jetzt nicht mehr fortſetzen kann.“ Damit erzählte ſie ihm von ihrem Gewebe, und wie der Betrug durch die Mägde entdeckt worden war. „Hinfort kann ich,“ endete ſie, „der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Ver¬ ſchwendung ſeines Erbguts. So ſiehſt du, wie es mir ergeht. Nun wohlan, verſchweige mir auch dein Ge¬ ſchlecht nicht, Mann, du biſt doch nicht der fabelhaften Eiche oder dem Felſen entſproſſen!“
„Wenn du mich nöthigeſt,“ erwiederte Odyſſeus, „ſo will ich es dir wohl ſagen.“ Und nun fing der Schalk an, ſein altes Lügenmährchen von Kreta zu erzählen. Dieſes ſah der Wahrheit ſo ähnlich, daß Penelope in Thränen zerfloß, und es den Odyſſeus im innerſten Herzen erbarmte. Dennoch ſtanden ihm die Augenſterne wie Horn oder Eiſen unbeweglich unter den Augenliedern, und er war beſonnen genug, die Thränen zurückzuhalten. Als die Königin lange genug geweint, begann ſie von
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biſt eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm
iſt groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du
aber frage mich nach Allem, nur nicht nach meinem
Geſchlecht und nach meiner Heimath, ich habe zu viel
Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte.
Wenn ich es aufzählen ſollte, ſo müßte ich troſtlos kla¬
gen, und würde von den Dienerinnen, oder gar von
dir ſelber mit Recht geſcholten.“ Hierauf fuhr Penelope
fort: „Du ſieheſt, Fremdling, daß es auch mir nicht
beſſer ergangen iſt, ſeit mein geliebter Gemahl mich ver¬
laſſen hat. Du kannſt die Männer ſelbſt zählen, die
um mich werben und mich bedrängen, und denen ich
ſeit drei Jahren durch eine Liſt entgangen bin, die ich
jetzt nicht mehr fortſetzen kann.“ Damit erzählte ſie ihm
von ihrem Gewebe, und wie der Betrug durch die
Mägde entdeckt worden war. „Hinfort kann ich,“ endete
ſie, „der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine
Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Ver¬
ſchwendung ſeines Erbguts. So ſiehſt du, wie es mir
ergeht. Nun wohlan, verſchweige mir auch dein Ge¬
ſchlecht nicht, Mann, du biſt doch nicht der fabelhaften
Eiche oder dem Felſen entſproſſen!“
„Wenn du mich nöthigeſt,“ erwiederte Odyſſeus,
„ſo will ich es dir wohl ſagen.“ Und nun fing der
Schalk an, ſein altes Lügenmährchen von Kreta zu erzählen.
Dieſes ſah der Wahrheit ſo ähnlich, daß Penelope in
Thränen zerfloß, und es den Odyſſeus im innerſten
Herzen erbarmte. Dennoch ſtanden ihm die Augenſterne
wie Horn oder Eiſen unbeweglich unter den Augenliedern,
und er war beſonnen genug, die Thränen zurückzuhalten.
Als die Königin lange genug geweint, begann ſie von
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/260>, abgerufen am 25.11.2024.
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