will; ihren Wuchs machte sie höher und voller; ihre Haut ließ sie wie Elfenbein schimmern. Dann verschwand die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Ge¬ räusch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlum¬ mer, rieb sich die Augen und sprach: "Ei wie sanft habe ich geschlafen, möchten mir die Götter nur auf der Stelle einen so sanften Tod senden, daß ich mich nicht länger um meinen Gemahl härmen und im Hause Kum¬ mer ausstehen müßte!" Mit diesen Worten erhub sie sich aus dem Sessel und stieg aus den obern Gemächern des Palastes zu den Freiern hinab. Dort stand sie in der Pforte des gewölbten Saales still, die Wangen mit dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu beiden Seiten stand sittsamlich eine Dienerin. Als die Freier sie sahen, schlug ihnen Allen das Herz im Leibe, und jeder wünschte und gelobte sich, sie als Gattin heim¬ zuführen. Die Königin aber wandte sich an ihren Sohn und sprach: "Telemach, ich erkenne dich nicht, fürwahr, schon als Knabe zeigtest du mehr Verstand denn jetzt, wo du groß und schön, wie der Sohn des edelsten Man¬ nes vor mir stehst! Welche That hast du so eben im Saale begehen lassen? Hast geduldet, daß ein armer Fremdling, der in unserer Behausung Ruhe suchte, auf's Unwürdigste gekränkt worden ist? Das muß uns ja vor allen Menschen Schande bringen!"
"Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter," erwiederte hierauf Telemach, "auch fehlt es mir nicht an der Erkenntniß des Rechten, aber diese feindseligen Männer, die um mich her sitzen, betäuben mich ganz, und nirgends finde ich einen, der mich unterstützte. Doch ist der Kampf des Fremden mit Irus gar nicht ausgegangen, wie es
will; ihren Wuchs machte ſie höher und voller; ihre Haut ließ ſie wie Elfenbein ſchimmern. Dann verſchwand die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Ge¬ räuſch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlum¬ mer, rieb ſich die Augen und ſprach: „Ei wie ſanft habe ich geſchlafen, möchten mir die Götter nur auf der Stelle einen ſo ſanften Tod ſenden, daß ich mich nicht länger um meinen Gemahl härmen und im Hauſe Kum¬ mer ausſtehen müßte!“ Mit dieſen Worten erhub ſie ſich aus dem Seſſel und ſtieg aus den obern Gemächern des Palaſtes zu den Freiern hinab. Dort ſtand ſie in der Pforte des gewölbten Saales ſtill, die Wangen mit dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu beiden Seiten ſtand ſittſamlich eine Dienerin. Als die Freier ſie ſahen, ſchlug ihnen Allen das Herz im Leibe, und jeder wünſchte und gelobte ſich, ſie als Gattin heim¬ zuführen. Die Königin aber wandte ſich an ihren Sohn und ſprach: „Telemach, ich erkenne dich nicht, fürwahr, ſchon als Knabe zeigteſt du mehr Verſtand denn jetzt, wo du groß und ſchön, wie der Sohn des edelſten Man¬ nes vor mir ſtehſt! Welche That haſt du ſo eben im Saale begehen laſſen? Haſt geduldet, daß ein armer Fremdling, der in unſerer Behauſung Ruhe ſuchte, auf's Unwürdigſte gekränkt worden iſt? Das muß uns ja vor allen Menſchen Schande bringen!“
„Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter,“ erwiederte hierauf Telemach, „auch fehlt es mir nicht an der Erkenntniß des Rechten, aber dieſe feindſeligen Männer, die um mich her ſitzen, betäuben mich ganz, und nirgends finde ich einen, der mich unterſtützte. Doch iſt der Kampf des Fremden mit Irus gar nicht ausgegangen, wie es
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will; ihren Wuchs machte ſie höher und voller; ihre
Haut ließ ſie wie Elfenbein ſchimmern. Dann verſchwand
die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Ge¬
räuſch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlum¬
mer, rieb ſich die Augen und ſprach: „Ei wie ſanft
habe ich geſchlafen, möchten mir die Götter nur auf der
Stelle einen ſo ſanften Tod ſenden, daß ich mich nicht
länger um meinen Gemahl härmen und im Hauſe Kum¬
mer ausſtehen müßte!“ Mit dieſen Worten erhub ſie
ſich aus dem Seſſel und ſtieg aus den obern Gemächern
des Palaſtes zu den Freiern hinab. Dort ſtand ſie in
der Pforte des gewölbten Saales ſtill, die Wangen mit
dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu
beiden Seiten ſtand ſittſamlich eine Dienerin. Als die
Freier ſie ſahen, ſchlug ihnen Allen das Herz im Leibe,
und jeder wünſchte und gelobte ſich, ſie als Gattin heim¬
zuführen. Die Königin aber wandte ſich an ihren Sohn
und ſprach: „Telemach, ich erkenne dich nicht, fürwahr,
ſchon als Knabe zeigteſt du mehr Verſtand denn jetzt,
wo du groß und ſchön, wie der Sohn des edelſten Man¬
nes vor mir ſtehſt! Welche That haſt du ſo eben im
Saale begehen laſſen? Haſt geduldet, daß ein armer
Fremdling, der in unſerer Behauſung Ruhe ſuchte, auf's
Unwürdigſte gekränkt worden iſt? Das muß uns ja vor
allen Menſchen Schande bringen!“
„Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter,“
erwiederte hierauf Telemach, „auch fehlt es mir nicht an
der Erkenntniß des Rechten, aber dieſe feindſeligen Männer,
die um mich her ſitzen, betäuben mich ganz, und nirgends
finde ich einen, der mich unterſtützte. Doch iſt der Kampf
des Fremden mit Irus gar nicht ausgegangen, wie es
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/252>, abgerufen am 22.11.2024.
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