wohl daran gethan, den Unglücklichen zu werfen. Wie nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menschen¬ gestalt angenommen? denn solches geschieht ja manch¬ mal!" Aber Antinous achtete nicht auf diese Warnung. Telemach selbst sah schweigend die Mißhandlung seines Vaters, und drängte seinen Ingrimm in den Busen zurück.
In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die offenen Fenster Alles vernehmen, was im Saale geschah. So hörte sie auch, wie es dem Bettler dort erging und empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den Sauhirten zu sich hereinrufen und befahl ihm, jenen kommen zu heißen. "Vielleicht," setzte sie hinzu, "weiß er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder hat ihn gar selbst gesehen, denn er scheint weit in der Welt umhergewandert zu seyn." "Ja," antwortete Eu¬ mäus, "wenn die Freier schweigen und hören möchten, er könnte Vieles erzählen. Drei Tage schon beherberge ich ihn, und seine Berichte entzücken mein Herz, als wären sie das Lied eines Sängers. Er ist von Kreta, und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väter¬ liches Gastrecht verbunden. Und so will er denn auch wissen, daß Odysseus gegenwärtig im Lande der Thes¬ proter lebe, und nächstens mit vielem Gute heimkehren werde." "Geh," sagte Penelope bewegt, "rufe den Fremdling herbei, daß er mir selbst erzähle! Diese üppi¬ gen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odysseus war; käme dieser, so würden er und Telemach den Trotzigen bald vergelten!" Als sie so sprach, nieste eben Telemachus im Saale so laut, daß das Gewölbe wie¬ derhallte. Penelope mußte lächeln und sprach zum Sau¬ hirten: "Hörst du, wie mein Sohn mir zuniest, ist das
wohl daran gethan, den Unglücklichen zu werfen. Wie nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menſchen¬ geſtalt angenommen? denn ſolches geſchieht ja manch¬ mal!“ Aber Antinous achtete nicht auf dieſe Warnung. Telemach ſelbſt ſah ſchweigend die Mißhandlung ſeines Vaters, und drängte ſeinen Ingrimm in den Buſen zurück.
In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die offenen Fenſter Alles vernehmen, was im Saale geſchah. So hörte ſie auch, wie es dem Bettler dort erging und empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den Sauhirten zu ſich hereinrufen und befahl ihm, jenen kommen zu heißen. „Vielleicht,“ ſetzte ſie hinzu, „weiß er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder hat ihn gar ſelbſt geſehen, denn er ſcheint weit in der Welt umhergewandert zu ſeyn.“ „Ja,“ antwortete Eu¬ mäus, „wenn die Freier ſchweigen und hören möchten, er könnte Vieles erzählen. Drei Tage ſchon beherberge ich ihn, und ſeine Berichte entzücken mein Herz, als wären ſie das Lied eines Sängers. Er iſt von Kreta, und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väter¬ liches Gaſtrecht verbunden. Und ſo will er denn auch wiſſen, daß Odyſſeus gegenwärtig im Lande der Thes¬ proter lebe, und nächſtens mit vielem Gute heimkehren werde.“ „Geh,“ ſagte Penelope bewegt, „rufe den Fremdling herbei, daß er mir ſelbſt erzähle! Dieſe üppi¬ gen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odyſſeus war; käme dieſer, ſo würden er und Telemach den Trotzigen bald vergelten!“ Als ſie ſo ſprach, nieste eben Telemachus im Saale ſo laut, daß das Gewölbe wie¬ derhallte. Penelope mußte lächeln und ſprach zum Sau¬ hirten: „Hörſt du, wie mein Sohn mir zuniest, iſt das
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wohl daran gethan, den Unglücklichen zu werfen. Wie
nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menſchen¬
geſtalt angenommen? denn ſolches geſchieht ja manch¬
mal!“ Aber Antinous achtete nicht auf dieſe Warnung.
Telemach ſelbſt ſah ſchweigend die Mißhandlung ſeines
Vaters, und drängte ſeinen Ingrimm in den Buſen zurück.
In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die
offenen Fenſter Alles vernehmen, was im Saale geſchah.
So hörte ſie auch, wie es dem Bettler dort erging und
empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den
Sauhirten zu ſich hereinrufen und befahl ihm, jenen
kommen zu heißen. „Vielleicht,“ ſetzte ſie hinzu, „weiß
er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder
hat ihn gar ſelbſt geſehen, denn er ſcheint weit in der
Welt umhergewandert zu ſeyn.“ „Ja,“ antwortete Eu¬
mäus, „wenn die Freier ſchweigen und hören möchten,
er könnte Vieles erzählen. Drei Tage ſchon beherberge
ich ihn, und ſeine Berichte entzücken mein Herz, als
wären ſie das Lied eines Sängers. Er iſt von Kreta,
und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väter¬
liches Gaſtrecht verbunden. Und ſo will er denn auch
wiſſen, daß Odyſſeus gegenwärtig im Lande der Thes¬
proter lebe, und nächſtens mit vielem Gute heimkehren
werde.“ „Geh,“ ſagte Penelope bewegt, „rufe den
Fremdling herbei, daß er mir ſelbſt erzähle! Dieſe üppi¬
gen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odyſſeus
war; käme dieſer, ſo würden er und Telemach den
Trotzigen bald vergelten!“ Als ſie ſo ſprach, nieste eben
Telemachus im Saale ſo laut, daß das Gewölbe wie¬
derhallte. Penelope mußte lächeln und ſprach zum Sau¬
hirten: „Hörſt du, wie mein Sohn mir zuniest, iſt das
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/245>, abgerufen am 23.11.2024.
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