Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

und sagte: "Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬
mäus, du kennst ja die böse Gewohnheit dieses Man¬
nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, sage
ich: du bist nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬
ten dürftest, diesen Fremdling aus dem Hause zu treiben.
Gieb ihm vielmehr und schone meines Gutes nicht! Aber
freilich, du willst lieber selbst verzehren, als Andern
geben!" "Siehe da, wie der trotzige Knabe mich schmäht,"
rief Antinous dagegen, "wollte jeder Freier diesem Bettler
eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das
Haus nicht wieder zu betreten!" Damit ergriff er sei¬
nen Fußschemel, und als Odysseus auf seinem Rückwege
zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch
ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen
Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬
merte, rief dieser unwillig: "Welch ein Dämon hat uns
diesen zudringlichen Schmarotzer gesandt! Weiche von
meinem Tisch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern
nicht gesegne!" Und als Odysseus murrend sich zurück¬
zog, warf ihm Antinous den Fußschemel nach, daß die¬
ser ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬
gelenk. Odysseus stand unverrückt wie ein Fels und
schüttelte schweigend sein Haupt, voll von Entwürfen.
Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben
gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte niedersitzend den
Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Dieser
aber rief dem Bettler zu: "Schweig' und friß, du Fremd¬
ling, oder packe dich, sonst zieht man dich an Hand und
Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!"

Diese Rohheit empörte selbst die Freier; einer aus
ihnen erhub sich und sprach: "Antinous, du hast nicht

und ſagte: „Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬
mäus, du kennſt ja die böſe Gewohnheit dieſes Man¬
nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, ſage
ich: du biſt nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬
ten dürfteſt, dieſen Fremdling aus dem Hauſe zu treiben.
Gieb ihm vielmehr und ſchone meines Gutes nicht! Aber
freilich, du willſt lieber ſelbſt verzehren, als Andern
geben!“ „Siehe da, wie der trotzige Knabe mich ſchmäht,“
rief Antinous dagegen, „wollte jeder Freier dieſem Bettler
eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das
Haus nicht wieder zu betreten!“ Damit ergriff er ſei¬
nen Fußſchemel, und als Odyſſeus auf ſeinem Rückwege
zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch
ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen
Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬
merte, rief dieſer unwillig: „Welch ein Dämon hat uns
dieſen zudringlichen Schmarotzer geſandt! Weiche von
meinem Tiſch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern
nicht geſegne!“ Und als Odyſſeus murrend ſich zurück¬
zog, warf ihm Antinous den Fußſchemel nach, daß die¬
ſer ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬
gelenk. Odyſſeus ſtand unverrückt wie ein Fels und
ſchüttelte ſchweigend ſein Haupt, voll von Entwürfen.
Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben
gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte niederſitzend den
Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Dieſer
aber rief dem Bettler zu: „Schweig' und friß, du Fremd¬
ling, oder packe dich, ſonſt zieht man dich an Hand und
Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!“

Dieſe Rohheit empörte ſelbſt die Freier; einer aus
ihnen erhub ſich und ſprach: „Antinous, du haſt nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0244" n="222"/>
und &#x017F;agte: &#x201E;Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬<lb/>
mäus, du kenn&#x017F;t ja die bö&#x017F;e Gewohnheit die&#x017F;es Man¬<lb/>
nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, &#x017F;age<lb/>
ich: du bi&#x017F;t nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬<lb/>
ten dürfte&#x017F;t, die&#x017F;en Fremdling aus dem Hau&#x017F;e zu treiben.<lb/>
Gieb ihm vielmehr und &#x017F;chone meines Gutes nicht! Aber<lb/>
freilich, du will&#x017F;t lieber &#x017F;elb&#x017F;t verzehren, als Andern<lb/>
geben!&#x201C; &#x201E;Siehe da, wie der trotzige Knabe mich &#x017F;chmäht,&#x201C;<lb/>
rief Antinous dagegen, &#x201E;wollte jeder Freier die&#x017F;em Bettler<lb/>
eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das<lb/>
Haus nicht wieder zu betreten!&#x201C; Damit ergriff er &#x017F;ei¬<lb/>
nen Fuß&#x017F;chemel, und als Ody&#x017F;&#x017F;eus auf &#x017F;einem Rückwege<lb/>
zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch<lb/>
ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen<lb/>
Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬<lb/>
merte, rief die&#x017F;er unwillig: &#x201E;Welch ein Dämon hat uns<lb/>
die&#x017F;en zudringlichen Schmarotzer ge&#x017F;andt! Weiche von<lb/>
meinem Ti&#x017F;ch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern<lb/>
nicht ge&#x017F;egne!&#x201C; Und als Ody&#x017F;&#x017F;eus murrend &#x017F;ich zurück¬<lb/>
zog, warf ihm Antinous den Fuß&#x017F;chemel nach, daß die¬<lb/>
&#x017F;er ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬<lb/>
gelenk. Ody&#x017F;&#x017F;eus &#x017F;tand unverrückt wie ein Fels und<lb/>
&#x017F;chüttelte &#x017F;chweigend &#x017F;ein Haupt, voll von Entwürfen.<lb/>
Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben<lb/>
gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte nieder&#x017F;itzend den<lb/>
Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Die&#x017F;er<lb/>
aber rief dem Bettler zu: &#x201E;Schweig' und friß, du Fremd¬<lb/>
ling, oder packe dich, &#x017F;on&#x017F;t zieht man dich an Hand und<lb/>
Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Rohheit empörte &#x017F;elb&#x017F;t die Freier; einer aus<lb/>
ihnen erhub &#x017F;ich und &#x017F;prach: &#x201E;Antinous, du ha&#x017F;t nicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0244] und ſagte: „Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬ mäus, du kennſt ja die böſe Gewohnheit dieſes Man¬ nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, ſage ich: du biſt nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬ ten dürfteſt, dieſen Fremdling aus dem Hauſe zu treiben. Gieb ihm vielmehr und ſchone meines Gutes nicht! Aber freilich, du willſt lieber ſelbſt verzehren, als Andern geben!“ „Siehe da, wie der trotzige Knabe mich ſchmäht,“ rief Antinous dagegen, „wollte jeder Freier dieſem Bettler eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das Haus nicht wieder zu betreten!“ Damit ergriff er ſei¬ nen Fußſchemel, und als Odyſſeus auf ſeinem Rückwege zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬ merte, rief dieſer unwillig: „Welch ein Dämon hat uns dieſen zudringlichen Schmarotzer geſandt! Weiche von meinem Tiſch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern nicht geſegne!“ Und als Odyſſeus murrend ſich zurück¬ zog, warf ihm Antinous den Fußſchemel nach, daß die¬ ſer ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬ gelenk. Odyſſeus ſtand unverrückt wie ein Fels und ſchüttelte ſchweigend ſein Haupt, voll von Entwürfen. Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte niederſitzend den Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Dieſer aber rief dem Bettler zu: „Schweig' und friß, du Fremd¬ ling, oder packe dich, ſonſt zieht man dich an Hand und Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!“ Dieſe Rohheit empörte ſelbſt die Freier; einer aus ihnen erhub ſich und ſprach: „Antinous, du haſt nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/244
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/244>, abgerufen am 23.11.2024.