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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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nach so langer langer Zeit wieder erblickte, bewegte sich ihm
das Herz im Leibe; er faßte seinen Begleiter an der
Hand und sprach: "Fürwahr, Eumäus, das muß die
Wohnung des Odysseus seyn! welch ein Palast, welch
eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umschlossen ist
der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mäch¬
tige Thorflügel bilden den Eingang; wahrlich diese
Burg ist unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß
viele Menschen da drinnen ein Gastmahl begehen; duftet
es doch bis zu uns heraus von Speisen, und die Harfe
des Sängers, der den Schmaus mit seinen Liedern würzt,
schallt aus dem Saale hervor!"

Sie berathschlagten nun mit einander und beschlossen,
daß der Sauhirt vorangehen und sich für den Odysseus
im Saal umsehen, dieser aber so lange vor dem Thor
warten sollte. Während sie noch miteinander sprachen,
erhub ein alter Haushund an der Thüre Haupt und
Ohren von seinem Lager. Er hieß Argos; Odysseus
selbst hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja schiffte.
Er begleitete sonst die Männer auf die Jagd, jetzt aber
lag er, im Alter verachtet, vor der Thüre auf einem
Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieser den
Odysseus bemerkte, schien er ihn trotz der Verkleidung
zu kennen, er senkte die Ohren und wedelte mit
dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor
Schwäche nicht mehr. Odysseus wischte sich heimlich
eine Thräne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann
sprach er, seinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten:
"Der Hund, der hier auf dem Miste liegt, scheint ein¬
mal so übel nicht gewesen zu seyn, man sieht es seinem
Wuchse noch an!" "Freilich," erwiederte Eumäus, "er

nach ſo langer langer Zeit wieder erblickte, bewegte ſich ihm
das Herz im Leibe; er faßte ſeinen Begleiter an der
Hand und ſprach: „Fürwahr, Eumäus, das muß die
Wohnung des Odyſſeus ſeyn! welch ein Palaſt, welch
eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umſchloſſen iſt
der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mäch¬
tige Thorflügel bilden den Eingang; wahrlich dieſe
Burg iſt unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß
viele Menſchen da drinnen ein Gaſtmahl begehen; duftet
es doch bis zu uns heraus von Speiſen, und die Harfe
des Sängers, der den Schmaus mit ſeinen Liedern würzt,
ſchallt aus dem Saale hervor!“

Sie berathſchlagten nun mit einander und beſchloſſen,
daß der Sauhirt vorangehen und ſich für den Odyſſeus
im Saal umſehen, dieſer aber ſo lange vor dem Thor
warten ſollte. Während ſie noch miteinander ſprachen,
erhub ein alter Haushund an der Thüre Haupt und
Ohren von ſeinem Lager. Er hieß Argos; Odyſſeus
ſelbſt hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja ſchiffte.
Er begleitete ſonſt die Männer auf die Jagd, jetzt aber
lag er, im Alter verachtet, vor der Thüre auf einem
Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieſer den
Odyſſeus bemerkte, ſchien er ihn trotz der Verkleidung
zu kennen, er ſenkte die Ohren und wedelte mit
dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor
Schwäche nicht mehr. Odyſſeus wiſchte ſich heimlich
eine Thräne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann
ſprach er, ſeinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten:
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[219/0241] nach ſo langer langer Zeit wieder erblickte, bewegte ſich ihm das Herz im Leibe; er faßte ſeinen Begleiter an der Hand und ſprach: „Fürwahr, Eumäus, das muß die Wohnung des Odyſſeus ſeyn! welch ein Palaſt, welch eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umſchloſſen iſt der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mäch¬ tige Thorflügel bilden den Eingang; wahrlich dieſe Burg iſt unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß viele Menſchen da drinnen ein Gaſtmahl begehen; duftet es doch bis zu uns heraus von Speiſen, und die Harfe des Sängers, der den Schmaus mit ſeinen Liedern würzt, ſchallt aus dem Saale hervor!“ Sie berathſchlagten nun mit einander und beſchloſſen, daß der Sauhirt vorangehen und ſich für den Odyſſeus im Saal umſehen, dieſer aber ſo lange vor dem Thor warten ſollte. Während ſie noch miteinander ſprachen, erhub ein alter Haushund an der Thüre Haupt und Ohren von ſeinem Lager. Er hieß Argos; Odyſſeus ſelbſt hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja ſchiffte. Er begleitete ſonſt die Männer auf die Jagd, jetzt aber lag er, im Alter verachtet, vor der Thüre auf einem Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieſer den Odyſſeus bemerkte, ſchien er ihn trotz der Verkleidung zu kennen, er ſenkte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor Schwäche nicht mehr. Odyſſeus wiſchte ſich heimlich eine Thräne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann ſprach er, ſeinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten: „Der Hund, der hier auf dem Miſte liegt, ſcheint ein¬ mal ſo übel nicht geweſen zu ſeyn, man ſieht es ſeinem Wuchſe noch an!“ „Freilich,“ erwiederte Eumäus, „er

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/241>, abgerufen am 23.11.2024.