sonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und gesunde Insel mit Namen Syria, mit zwei Städten. Ueber beide herrschte als mächtiger Fürst mein Vater Ktesius, der Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe war, landeten dort trügerische Seefahrer aus Phönizien, die allerlei niedliche Waaren auf ihrem Schiffe zum Verkauf mitbrachten, und lang an unsrer Küste blieben. Nun hatten wir damals ein phönizisches Weib, schön und schlank von Gestalt, die mein Vater als Sklavin erstan¬ den hatte, und die wegen ihrer kunstreichen Arbeiten sehr beliebt war, in unserer Wohnung. Diese wurde mit einem der phönizischen Krämer, ihrer Landsleute, ver¬ traut, und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer versprach ihr, sie mit sich als seine Gattin in seine und ihre Hei¬ math nach Sidon zu bringen, und die treulose Sklavin gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hause nicht nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen, sondern auch noch etwas Besseres. Ich erziehe nämlich, sagte sie, den kleinen Sohn des Fürsten, er ist schon recht gescheut für sein Alter, und läuft so mit, wenn ich Gänge außer dem Hause zu machen habe. Diesen bringe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen kleinen Gewinn von ihm machen.
So sprach das falsche Weib und ging nach dem Palaste zurück, als wenn nichts geschehen wäre; denn die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der Insel. Als sie sich endlich mit dem schwer beladenen Schiffe zur Heimfahrt rüsteten, erschien ein listiger Mann mit einem goldenen Halsbande im Palaste meines Va¬ ters, und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde umstanden ihn im Saal, faßten es Eine um die Andere
ſonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und geſunde Inſel mit Namen Syria, mit zwei Städten. Ueber beide herrſchte als mächtiger Fürſt mein Vater Kteſius, der Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe war, landeten dort trügeriſche Seefahrer aus Phönizien, die allerlei niedliche Waaren auf ihrem Schiffe zum Verkauf mitbrachten, und lang an unſrer Küſte blieben. Nun hatten wir damals ein phöniziſches Weib, ſchön und ſchlank von Geſtalt, die mein Vater als Sklavin erſtan¬ den hatte, und die wegen ihrer kunſtreichen Arbeiten ſehr beliebt war, in unſerer Wohnung. Dieſe wurde mit einem der phöniziſchen Krämer, ihrer Landsleute, ver¬ traut, und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer verſprach ihr, ſie mit ſich als ſeine Gattin in ſeine und ihre Hei¬ math nach Sidon zu bringen, und die treuloſe Sklavin gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hauſe nicht nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen, ſondern auch noch etwas Beſſeres. Ich erziehe nämlich, ſagte ſie, den kleinen Sohn des Fürſten, er iſt ſchon recht geſcheut für ſein Alter, und läuft ſo mit, wenn ich Gänge außer dem Hauſe zu machen habe. Dieſen bringe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen kleinen Gewinn von ihm machen.
So ſprach das falſche Weib und ging nach dem Palaſte zurück, als wenn nichts geſchehen wäre; denn die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der Inſel. Als ſie ſich endlich mit dem ſchwer beladenen Schiffe zur Heimfahrt rüſteten, erſchien ein liſtiger Mann mit einem goldenen Halsbande im Palaſte meines Va¬ ters, und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde umſtanden ihn im Saal, faßten es Eine um die Andere
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ſonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und geſunde Inſel
mit Namen Syria, mit zwei Städten. Ueber beide
herrſchte als mächtiger Fürſt mein Vater Kteſius, der
Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe
war, landeten dort trügeriſche Seefahrer aus Phönizien,
die allerlei niedliche Waaren auf ihrem Schiffe zum
Verkauf mitbrachten, und lang an unſrer Küſte blieben.
Nun hatten wir damals ein phöniziſches Weib, ſchön und
ſchlank von Geſtalt, die mein Vater als Sklavin erſtan¬
den hatte, und die wegen ihrer kunſtreichen Arbeiten ſehr
beliebt war, in unſerer Wohnung. Dieſe wurde mit
einem der phöniziſchen Krämer, ihrer Landsleute, ver¬
traut, und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer verſprach
ihr, ſie mit ſich als ſeine Gattin in ſeine und ihre Hei¬
math nach Sidon zu bringen, und die treuloſe Sklavin
gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hauſe nicht
nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen,
ſondern auch noch etwas Beſſeres. Ich erziehe nämlich,
ſagte ſie, den kleinen Sohn des Fürſten, er iſt ſchon
recht geſcheut für ſein Alter, und läuft ſo mit, wenn
ich Gänge außer dem Hauſe zu machen habe. Dieſen
bringe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen
kleinen Gewinn von ihm machen.
So ſprach das falſche Weib und ging nach dem
Palaſte zurück, als wenn nichts geſchehen wäre; denn
die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der
Inſel. Als ſie ſich endlich mit dem ſchwer beladenen
Schiffe zur Heimfahrt rüſteten, erſchien ein liſtiger Mann
mit einem goldenen Halsbande im Palaſte meines Va¬
ters, und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/221>, abgerufen am 27.11.2024.
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