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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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zierlichsten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt
von Salben duftend, stehen ihnen zu Gebot und bedie¬
nen die prächtigen Tische, welche stets mit Fleisch, Brod
und Wein belastet sind. Bleib du bei uns, wo deine
Gesellschaft weder mir noch den Meinigen beschwerlich
ist, und warte auf den guten Sohn des Odysseus, der
dich mit aller Nothdurft wohl versorgen wird!"

Odysseus nahm das Anerbieten dankbar an und bat
darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den
Eltern seines Herrn gehe, ob sie noch leben, oder schon
in den Hades hinabgestiegen seyen. "Laertes, der Vater,
lebt noch," antwortete ihm Eumäus, "aber er beweint
untröstlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der
Gram um den Verlorenen umgebracht hat. Auch ich
muß diese gute Frau beweinen; ist doch sie es, die mich
mit ihrer Tochter Ktimene fast wie einen Sohn aufge¬
zogen hat. Als später die Tochter nach Samos ver¬
mählt wurde, stattete mich die Mutter reichlich aus und
schickte mich hierher auf's Land. Jetzt muß ich freilich
Vieles entbehren, und nähre mich so gut ich kann von
meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann
nichts für mich thun; sie ist von den Freiern umgeben
und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht
bis zu ihr durchdringen." "Guter Sauhirt," fragte
Odysseus weiter, "woher stammest du denn, und wie bist
du in den Dienst dieses Hauses gekommen?" Der Hirt
schenkte seinem Gaste den Becher wieder voll und erwie¬
derte: "Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange
Geschichte nicht verdrießen, hier zwingt uns ja Niemand,
früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht
durch schwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht

zierlichſten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt
von Salben duftend, ſtehen ihnen zu Gebot und bedie¬
nen die prächtigen Tiſche, welche ſtets mit Fleiſch, Brod
und Wein belaſtet ſind. Bleib du bei uns, wo deine
Geſellſchaft weder mir noch den Meinigen beſchwerlich
iſt, und warte auf den guten Sohn des Odyſſeus, der
dich mit aller Nothdurft wohl verſorgen wird!“

Odyſſeus nahm das Anerbieten dankbar an und bat
darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den
Eltern ſeines Herrn gehe, ob ſie noch leben, oder ſchon
in den Hades hinabgeſtiegen ſeyen. „Laertes, der Vater,
lebt noch,“ antwortete ihm Eumäus, „aber er beweint
untröſtlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der
Gram um den Verlorenen umgebracht hat. Auch ich
muß dieſe gute Frau beweinen; iſt doch ſie es, die mich
mit ihrer Tochter Ktimene faſt wie einen Sohn aufge¬
zogen hat. Als ſpäter die Tochter nach Samos ver¬
mählt wurde, ſtattete mich die Mutter reichlich aus und
ſchickte mich hierher auf's Land. Jetzt muß ich freilich
Vieles entbehren, und nähre mich ſo gut ich kann von
meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann
nichts für mich thun; ſie iſt von den Freiern umgeben
und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht
bis zu ihr durchdringen.“ „Guter Sauhirt,“ fragte
Odyſſeus weiter, „woher ſtammeſt du denn, und wie biſt
du in den Dienſt dieſes Hauſes gekommen?“ Der Hirt
ſchenkte ſeinem Gaſte den Becher wieder voll und erwie¬
derte: „Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange
Geſchichte nicht verdrießen, hier zwingt uns ja Niemand,
früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht
durch ſchwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht

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[198/0220] zierlichſten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt von Salben duftend, ſtehen ihnen zu Gebot und bedie¬ nen die prächtigen Tiſche, welche ſtets mit Fleiſch, Brod und Wein belaſtet ſind. Bleib du bei uns, wo deine Geſellſchaft weder mir noch den Meinigen beſchwerlich iſt, und warte auf den guten Sohn des Odyſſeus, der dich mit aller Nothdurft wohl verſorgen wird!“ Odyſſeus nahm das Anerbieten dankbar an und bat darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den Eltern ſeines Herrn gehe, ob ſie noch leben, oder ſchon in den Hades hinabgeſtiegen ſeyen. „Laertes, der Vater, lebt noch,“ antwortete ihm Eumäus, „aber er beweint untröſtlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der Gram um den Verlorenen umgebracht hat. Auch ich muß dieſe gute Frau beweinen; iſt doch ſie es, die mich mit ihrer Tochter Ktimene faſt wie einen Sohn aufge¬ zogen hat. Als ſpäter die Tochter nach Samos ver¬ mählt wurde, ſtattete mich die Mutter reichlich aus und ſchickte mich hierher auf's Land. Jetzt muß ich freilich Vieles entbehren, und nähre mich ſo gut ich kann von meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann nichts für mich thun; ſie iſt von den Freiern umgeben und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht bis zu ihr durchdringen.“ „Guter Sauhirt,“ fragte Odyſſeus weiter, „woher ſtammeſt du denn, und wie biſt du in den Dienſt dieſes Hauſes gekommen?“ Der Hirt ſchenkte ſeinem Gaſte den Becher wieder voll und erwie¬ derte: „Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange Geſchichte nicht verdrießen, hier zwingt uns ja Niemand, früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht durch ſchwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/220>, abgerufen am 24.11.2024.