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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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brachte seiner Beschützerin Athene unter Gebet ein
Opfer dar.

Während er dieß that, näherte sich ein Mann mit
hastigen Schritten dem äußersten Ufer, streckte seine Hände
nach Telemach aus und rief: "Bei deinem Opfer, Jüng¬
ling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines
Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: sage mir,
wer du bist und wo du wohnest." Als Telemach ihm
Alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu
bitten: "Auch ich bin auf der Wanderschaft begriffen.
Ich bin der Seher Theoklymenus, mein Geschlecht stammt
aus Pylos, ich selbst aber hausete zu Argos. Dort hab'
ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem
Geschlecht erschlagen, und bin seinen Brüdern und Ver¬
wandten, die mir den Tod geschworen haben, entronnen.
Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter
durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, be¬
trachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu
dir ins Schiff, denn meine Verfolger sind mir auf den
Fersen!"

Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den
Fremdling gern in sein Schiff auf, und versprach ihm,
auch in Ithaka für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er
empfing zuerst den Speer aus den Händen des Fremden,
und legte ihn auf's Verdeck nieder; dann bestieg er selbst
mit dem Seher das Schiff und setzte sich mit ihm an
das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am
Gestade angebunden war, wurden abgelöst, der Mast
aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiff¬
bodens gestellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel

brachte ſeiner Beſchützerin Athene unter Gebet ein
Opfer dar.

Während er dieß that, näherte ſich ein Mann mit
haſtigen Schritten dem äußerſten Ufer, ſtreckte ſeine Hände
nach Telemach aus und rief: „Bei deinem Opfer, Jüng¬
ling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines
Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: ſage mir,
wer du biſt und wo du wohneſt.“ Als Telemach ihm
Alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu
bitten: „Auch ich bin auf der Wanderſchaft begriffen.
Ich bin der Seher Theoklymenus, mein Geſchlecht ſtammt
aus Pylos, ich ſelbſt aber hauſete zu Argos. Dort hab'
ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem
Geſchlecht erſchlagen, und bin ſeinen Brüdern und Ver¬
wandten, die mir den Tod geſchworen haben, entronnen.
Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter
durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, be¬
trachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu
dir ins Schiff, denn meine Verfolger ſind mir auf den
Ferſen!“

Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den
Fremdling gern in ſein Schiff auf, und verſprach ihm,
auch in Ithaka für ſeinen Lebensunterhalt zu ſorgen. Er
empfing zuerſt den Speer aus den Händen des Fremden,
und legte ihn auf's Verdeck nieder; dann beſtieg er ſelbſt
mit dem Seher das Schiff und ſetzte ſich mit ihm an
das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am
Geſtade angebunden war, wurden abgelöst, der Maſt
aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiff¬
bodens geſtellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel

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[196/0218] brachte ſeiner Beſchützerin Athene unter Gebet ein Opfer dar. Während er dieß that, näherte ſich ein Mann mit haſtigen Schritten dem äußerſten Ufer, ſtreckte ſeine Hände nach Telemach aus und rief: „Bei deinem Opfer, Jüng¬ ling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: ſage mir, wer du biſt und wo du wohneſt.“ Als Telemach ihm Alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu bitten: „Auch ich bin auf der Wanderſchaft begriffen. Ich bin der Seher Theoklymenus, mein Geſchlecht ſtammt aus Pylos, ich ſelbſt aber hauſete zu Argos. Dort hab' ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem Geſchlecht erſchlagen, und bin ſeinen Brüdern und Ver¬ wandten, die mir den Tod geſchworen haben, entronnen. Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, be¬ trachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu dir ins Schiff, denn meine Verfolger ſind mir auf den Ferſen!“ Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den Fremdling gern in ſein Schiff auf, und verſprach ihm, auch in Ithaka für ſeinen Lebensunterhalt zu ſorgen. Er empfing zuerſt den Speer aus den Händen des Fremden, und legte ihn auf's Verdeck nieder; dann beſtieg er ſelbſt mit dem Seher das Schiff und ſetzte ſich mit ihm an das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am Geſtade angebunden war, wurden abgelöst, der Maſt aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiff¬ bodens geſtellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/218>, abgerufen am 24.11.2024.