Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Odysseus machte sich den Scherz, und erzählte dem
Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er sich für
den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der
Insel Kreta ausgab, und die buntesten Abenteuer von
sich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬
gemacht, und den Odysseus dort kennen gelernt. Auf
der Heimkehr verschlug ihn der Sturm an die Küste
der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von
Odysseus vernommen haben wollte. Dieser sey der Gast
jenes Fürsten gewesen und habe ihn kurz vor der An¬
kunft des Bettlers verlassen, um zu Dodona beim Orakel
den Rathschluß Jupiters zu vernehmen.

Als er mit dem langen Gewebe seiner Lügen zu
Ende war, sprach der Sauhirt ganz gerührt: "Unglück¬
licher Fremdling, wie hast du mir das Herz im Leibe
aufgeregt, indem du mir deine mühseligen Irrfahrten so
ausführlich geschildert! nur eines glaube ich dir nicht:
nämlich das, was du mir von Odysseus sagst. Was
brauchst du auch so in den Wind hinein zu lügen! Mir
ist es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen
und zu forschen, seit mich ein Aetolier angelogen hat, der
wegen eines Todtschlags flüchtig, in mein Gehege kam,
und mir betheuerte, daß er selbst ihn auf der Insel
Kreta bei Idomeneus seine vom Sturm zerschmetterten
Schiffe ausbessernd und ergänzend angetroffen habe. Im
Sommer, oder doch im Herbste, komme er mit seinen
Genossen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum,
du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunst durch
solche Lügen erschmeicheln zu wollen, das Gastrecht ist
dir ja ohnedem gesichert."

"Guter Hirt," antwortete Odysseus, "ich will dir

Odyſſeus machte ſich den Scherz, und erzählte dem
Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er ſich für
den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der
Inſel Kreta ausgab, und die bunteſten Abenteuer von
ſich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬
gemacht, und den Odyſſeus dort kennen gelernt. Auf
der Heimkehr verſchlug ihn der Sturm an die Küſte
der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von
Odyſſeus vernommen haben wollte. Dieſer ſey der Gaſt
jenes Fürſten geweſen und habe ihn kurz vor der An¬
kunft des Bettlers verlaſſen, um zu Dodona beim Orakel
den Rathſchluß Jupiters zu vernehmen.

Als er mit dem langen Gewebe ſeiner Lügen zu
Ende war, ſprach der Sauhirt ganz gerührt: „Unglück¬
licher Fremdling, wie haſt du mir das Herz im Leibe
aufgeregt, indem du mir deine mühſeligen Irrfahrten ſo
ausführlich geſchildert! nur eines glaube ich dir nicht:
nämlich das, was du mir von Odyſſeus ſagſt. Was
brauchſt du auch ſo in den Wind hinein zu lügen! Mir
iſt es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen
und zu forſchen, ſeit mich ein Aetolier angelogen hat, der
wegen eines Todtſchlags flüchtig, in mein Gehege kam,
und mir betheuerte, daß er ſelbſt ihn auf der Inſel
Kreta bei Idomeneus ſeine vom Sturm zerſchmetterten
Schiffe ausbeſſernd und ergänzend angetroffen habe. Im
Sommer, oder doch im Herbſte, komme er mit ſeinen
Genoſſen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum,
du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunſt durch
ſolche Lügen erſchmeicheln zu wollen, das Gaſtrecht iſt
dir ja ohnedem geſichert.“

„Guter Hirt,“ antwortete Odyſſeus, „ich will dir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0209" n="187"/>
            <p>Ody&#x017F;&#x017F;eus machte &#x017F;ich den Scherz, und erzählte dem<lb/>
Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er &#x017F;ich für<lb/>
den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der<lb/>
In&#x017F;el Kreta ausgab, und die bunte&#x017F;ten Abenteuer von<lb/>
&#x017F;ich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬<lb/>
gemacht, und den Ody&#x017F;&#x017F;eus dort kennen gelernt. Auf<lb/>
der Heimkehr ver&#x017F;chlug ihn der Sturm an die Kü&#x017F;te<lb/>
der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;eus vernommen haben wollte. Die&#x017F;er &#x017F;ey der Ga&#x017F;t<lb/>
jenes Für&#x017F;ten gewe&#x017F;en und habe ihn kurz vor der An¬<lb/>
kunft des Bettlers verla&#x017F;&#x017F;en, um zu Dodona beim Orakel<lb/>
den Rath&#x017F;chluß Jupiters zu vernehmen.</p><lb/>
            <p>Als er mit dem langen Gewebe &#x017F;einer Lügen zu<lb/>
Ende war, &#x017F;prach der Sauhirt ganz gerührt: &#x201E;Unglück¬<lb/>
licher Fremdling, wie ha&#x017F;t du mir das Herz im Leibe<lb/>
aufgeregt, indem du mir deine müh&#x017F;eligen Irrfahrten &#x017F;o<lb/>
ausführlich ge&#x017F;childert! nur eines glaube ich dir nicht:<lb/>
nämlich das, was du mir von Ody&#x017F;&#x017F;eus &#x017F;ag&#x017F;t. Was<lb/>
brauch&#x017F;t du auch &#x017F;o in den Wind hinein zu lügen! Mir<lb/>
i&#x017F;t es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen<lb/>
und zu for&#x017F;chen, &#x017F;eit mich ein Aetolier angelogen hat, der<lb/>
wegen eines Todt&#x017F;chlags flüchtig, in mein Gehege kam,<lb/>
und mir betheuerte, daß er &#x017F;elb&#x017F;t ihn auf der In&#x017F;el<lb/>
Kreta bei Idomeneus &#x017F;eine vom Sturm zer&#x017F;chmetterten<lb/>
Schiffe ausbe&#x017F;&#x017F;ernd und ergänzend angetroffen habe. Im<lb/>
Sommer, oder doch im Herb&#x017F;te, komme er mit &#x017F;einen<lb/>
Geno&#x017F;&#x017F;en und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum,<lb/>
du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gun&#x017F;t durch<lb/>
&#x017F;olche Lügen er&#x017F;chmeicheln zu wollen, das Ga&#x017F;trecht i&#x017F;t<lb/>
dir ja ohnedem ge&#x017F;ichert.&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Guter Hirt,&#x201C; antwortete Ody&#x017F;&#x017F;eus, &#x201E;ich will dir<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[187/0209] Odyſſeus machte ſich den Scherz, und erzählte dem Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er ſich für den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der Inſel Kreta ausgab, und die bunteſten Abenteuer von ſich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬ gemacht, und den Odyſſeus dort kennen gelernt. Auf der Heimkehr verſchlug ihn der Sturm an die Küſte der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von Odyſſeus vernommen haben wollte. Dieſer ſey der Gaſt jenes Fürſten geweſen und habe ihn kurz vor der An¬ kunft des Bettlers verlaſſen, um zu Dodona beim Orakel den Rathſchluß Jupiters zu vernehmen. Als er mit dem langen Gewebe ſeiner Lügen zu Ende war, ſprach der Sauhirt ganz gerührt: „Unglück¬ licher Fremdling, wie haſt du mir das Herz im Leibe aufgeregt, indem du mir deine mühſeligen Irrfahrten ſo ausführlich geſchildert! nur eines glaube ich dir nicht: nämlich das, was du mir von Odyſſeus ſagſt. Was brauchſt du auch ſo in den Wind hinein zu lügen! Mir iſt es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen und zu forſchen, ſeit mich ein Aetolier angelogen hat, der wegen eines Todtſchlags flüchtig, in mein Gehege kam, und mir betheuerte, daß er ſelbſt ihn auf der Inſel Kreta bei Idomeneus ſeine vom Sturm zerſchmetterten Schiffe ausbeſſernd und ergänzend angetroffen habe. Im Sommer, oder doch im Herbſte, komme er mit ſeinen Genoſſen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum, du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunſt durch ſolche Lügen erſchmeicheln zu wollen, das Gaſtrecht iſt dir ja ohnedem geſichert.“ „Guter Hirt,“ antwortete Odyſſeus, „ich will dir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/209
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/209>, abgerufen am 23.11.2024.