eben so viele Schaf-, Schweine- und Ziegenheerden besitzt er auf dem Lande, die ihm theils Hirten, theils Mieth¬ linge versehen. In dieser Gegend allein sind eilf Zie¬ genheerden, welche wackre Männer hüten: auch sie müssen den Freiern alle Tage den auserlesensten Geisbock ablie¬ fern. Ich bin sein Oberhirt über die Schweine, auch ich muß Tag für Tag den besten Eber auswählen, und den unersättlichen Schwelgern zusenden!"
Während der Hirt so sprach, verschlang Odysseus, wie einer der nicht denkt, was er thut, hastig das Fleisch und trark den Wein in raschen Zügen, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Geist war ganz mit der Rache be¬ schäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als er satt gegessen und getrunken, und der Hirt ihm den Becher noch einmal voll gefüllt, trank er ihm freundlich zu und sprach: "Bezeichne mir doch deinen Herrn näher, lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich ihn kennte, und irgendwo einmal begegnet hätte; denn ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen!" Aber der Sauhirt antwortete ihm ganz unglaubig: "Meinst du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns von unserm Herrn etwas erzählen will, so leicht Glau¬ ben beimessen? Wie oft ist es schon geschehen, daß Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine Herrin und ihren Sohn gekommen sind, und sie mit ihren Mährchen über unsern armen Herrn bis zu Thrä¬ nen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock dargereicht und sie wohl bewirthet hatte. Ihm aber haben gewiß Hunde und Vögel schon lange das Fleisch von den Gebeinen verzehrt, oder die Fische haben's gefressen, und die nackten Knochen liegen am Kieselstrande. Ach,
eben ſo viele Schaf-, Schweine- und Ziegenheerden beſitzt er auf dem Lande, die ihm theils Hirten, theils Mieth¬ linge verſehen. In dieſer Gegend allein ſind eilf Zie¬ genheerden, welche wackre Männer hüten: auch ſie müſſen den Freiern alle Tage den auserleſenſten Geisbock ablie¬ fern. Ich bin ſein Oberhirt über die Schweine, auch ich muß Tag für Tag den beſten Eber auswählen, und den unerſättlichen Schwelgern zuſenden!“
Während der Hirt ſo ſprach, verſchlang Odyſſeus, wie einer der nicht denkt, was er thut, haſtig das Fleiſch und trark den Wein in raſchen Zügen, ohne ein Wort zu ſprechen. Sein Geiſt war ganz mit der Rache be¬ ſchäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als er ſatt gegeſſen und getrunken, und der Hirt ihm den Becher noch einmal voll gefüllt, trank er ihm freundlich zu und ſprach: „Bezeichne mir doch deinen Herrn näher, lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich ihn kennte, und irgendwo einmal begegnet hätte; denn ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen!“ Aber der Sauhirt antwortete ihm ganz unglaubig: „Meinſt du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns von unſerm Herrn etwas erzählen will, ſo leicht Glau¬ ben beimeſſen? Wie oft iſt es ſchon geſchehen, daß Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine Herrin und ihren Sohn gekommen ſind, und ſie mit ihren Mährchen über unſern armen Herrn bis zu Thrä¬ nen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock dargereicht und ſie wohl bewirthet hatte. Ihm aber haben gewiß Hunde und Vögel ſchon lange das Fleiſch von den Gebeinen verzehrt, oder die Fiſche haben's gefreſſen, und die nackten Knochen liegen am Kieſelſtrande. Ach,
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eben ſo viele Schaf-, Schweine- und Ziegenheerden beſitzt
er auf dem Lande, die ihm theils Hirten, theils Mieth¬
linge verſehen. In dieſer Gegend allein ſind eilf Zie¬
genheerden, welche wackre Männer hüten: auch ſie müſſen
den Freiern alle Tage den auserleſenſten Geisbock ablie¬
fern. Ich bin ſein Oberhirt über die Schweine, auch
ich muß Tag für Tag den beſten Eber auswählen, und
den unerſättlichen Schwelgern zuſenden!“
Während der Hirt ſo ſprach, verſchlang Odyſſeus,
wie einer der nicht denkt, was er thut, haſtig das Fleiſch
und trark den Wein in raſchen Zügen, ohne ein Wort
zu ſprechen. Sein Geiſt war ganz mit der Rache be¬
ſchäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als
er ſatt gegeſſen und getrunken, und der Hirt ihm den
Becher noch einmal voll gefüllt, trank er ihm freundlich
zu und ſprach: „Bezeichne mir doch deinen Herrn näher,
lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich
ihn kennte, und irgendwo einmal begegnet hätte; denn
ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen!“ Aber
der Sauhirt antwortete ihm ganz unglaubig: „Meinſt
du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns
von unſerm Herrn etwas erzählen will, ſo leicht Glau¬
ben beimeſſen? Wie oft iſt es ſchon geſchehen, daß
Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine
Herrin und ihren Sohn gekommen ſind, und ſie mit
ihren Mährchen über unſern armen Herrn bis zu Thrä¬
nen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock
dargereicht und ſie wohl bewirthet hatte. Ihm aber
haben gewiß Hunde und Vögel ſchon lange das Fleiſch von
den Gebeinen verzehrt, oder die Fiſche haben's gefreſſen,
und die nackten Knochen liegen am Kieſelſtrande. Ach,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/207>, abgerufen am 23.11.2024.
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