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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Täuschung?" "Ueberzeuge dich mit deinen eigenen Augen,"
antwortete Minerva, "erkennst du nicht die Bucht des
Forkys, den Oelbaum dort, die Nymphengrotte, wo du
so manche Sühnopfer dargebracht hast, und jenes finstere
Waldgebirg, es ist ja das dir wohlbekannte Neriton!"
So sprach Athene und zerstreute schnell den Nebel vor
den Augen des Helden, daß das Heimathland klar vor
ihm lag. Erfreut warf sich Odysseus auf die mütterliche
Erde nieder, sie zu küssen, und betete zu den Nymphen,
den Schutzgöttinnen des Ortes, wo er stand. Hierauf
half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte,
in der Felskluft verbergen, und als Alles wohl versteckt
und ein Stein davor gewälzt war, setzten sich Göttin
und Held unter den Olivenbaum, und berathschlagten
über den Untergang der Freier, von deren frechen Wer¬
bungen in seinem eigenen Hause, so wie von der Treue
seiner Gattin, Athene ihrem Schützling ausführlichen
Bericht erstattete. "Wehe mir," rief Odysseus, als er
Alles vernommen, "hättest du mir nicht alle diese Um¬
stände verkündigt, gnädige Göttin, so hätte mich zu
Hause ein eben so schmählicher Tod erwartet, wie den
Agamemnon in Mycene. Wenn aber du mir ernstlich
deine Hülfe gewährest, so fürchte ich, der einzelne
Mann, selbst dreihundert Feinde nicht."

Hierauf erwiederte die Göttin: "Sey getrost, mein
Freund, nimmermehr werde ich dich versäumen. Vor
allen Dingen will ich dafür sorgen, daß kein Mensch
auf diesem Eilande dich erkenne. Das Fleisch um deine
stattlichen Glieder soll zusammenschrumpfen, dein braunes
Haar vom Haupte schwinden; deinen Leib hülle ich in
einen Kittel, in welchem Jedermann dich nur mit Abscheu

Täuſchung?“ „Ueberzeuge dich mit deinen eigenen Augen,“
antwortete Minerva, „erkennſt du nicht die Bucht des
Forkys, den Oelbaum dort, die Nymphengrotte, wo du
ſo manche Sühnopfer dargebracht haſt, und jenes finſtere
Waldgebirg, es iſt ja das dir wohlbekannte Neriton!“
So ſprach Athene und zerſtreute ſchnell den Nebel vor
den Augen des Helden, daß das Heimathland klar vor
ihm lag. Erfreut warf ſich Odyſſeus auf die mütterliche
Erde nieder, ſie zu küſſen, und betete zu den Nymphen,
den Schutzgöttinnen des Ortes, wo er ſtand. Hierauf
half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte,
in der Felskluft verbergen, und als Alles wohl verſteckt
und ein Stein davor gewälzt war, ſetzten ſich Göttin
und Held unter den Olivenbaum, und berathſchlagten
über den Untergang der Freier, von deren frechen Wer¬
bungen in ſeinem eigenen Hauſe, ſo wie von der Treue
ſeiner Gattin, Athene ihrem Schützling ausführlichen
Bericht erſtattete. „Wehe mir,“ rief Odyſſeus, als er
Alles vernommen, „hätteſt du mir nicht alle dieſe Um¬
ſtände verkündigt, gnädige Göttin, ſo hätte mich zu
Hauſe ein eben ſo ſchmählicher Tod erwartet, wie den
Agamemnon in Mycene. Wenn aber du mir ernſtlich
deine Hülfe gewähreſt, ſo fürchte ich, der einzelne
Mann, ſelbſt dreihundert Feinde nicht.“

Hierauf erwiederte die Göttin: „Sey getroſt, mein
Freund, nimmermehr werde ich dich verſäumen. Vor
allen Dingen will ich dafür ſorgen, daß kein Menſch
auf dieſem Eilande dich erkenne. Das Fleiſch um deine
ſtattlichen Glieder ſoll zuſammenſchrumpfen, dein braunes
Haar vom Haupte ſchwinden; deinen Leib hülle ich in
einen Kittel, in welchem Jedermann dich nur mit Abſcheu

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[180/0202] Täuſchung?“ „Ueberzeuge dich mit deinen eigenen Augen,“ antwortete Minerva, „erkennſt du nicht die Bucht des Forkys, den Oelbaum dort, die Nymphengrotte, wo du ſo manche Sühnopfer dargebracht haſt, und jenes finſtere Waldgebirg, es iſt ja das dir wohlbekannte Neriton!“ So ſprach Athene und zerſtreute ſchnell den Nebel vor den Augen des Helden, daß das Heimathland klar vor ihm lag. Erfreut warf ſich Odyſſeus auf die mütterliche Erde nieder, ſie zu küſſen, und betete zu den Nymphen, den Schutzgöttinnen des Ortes, wo er ſtand. Hierauf half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte, in der Felskluft verbergen, und als Alles wohl verſteckt und ein Stein davor gewälzt war, ſetzten ſich Göttin und Held unter den Olivenbaum, und berathſchlagten über den Untergang der Freier, von deren frechen Wer¬ bungen in ſeinem eigenen Hauſe, ſo wie von der Treue ſeiner Gattin, Athene ihrem Schützling ausführlichen Bericht erſtattete. „Wehe mir,“ rief Odyſſeus, als er Alles vernommen, „hätteſt du mir nicht alle dieſe Um¬ ſtände verkündigt, gnädige Göttin, ſo hätte mich zu Hauſe ein eben ſo ſchmählicher Tod erwartet, wie den Agamemnon in Mycene. Wenn aber du mir ernſtlich deine Hülfe gewähreſt, ſo fürchte ich, der einzelne Mann, ſelbſt dreihundert Feinde nicht.“ Hierauf erwiederte die Göttin: „Sey getroſt, mein Freund, nimmermehr werde ich dich verſäumen. Vor allen Dingen will ich dafür ſorgen, daß kein Menſch auf dieſem Eilande dich erkenne. Das Fleiſch um deine ſtattlichen Glieder ſoll zuſammenſchrumpfen, dein braunes Haar vom Haupte ſchwinden; deinen Leib hülle ich in einen Kittel, in welchem Jedermann dich nur mit Abſcheu

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/202>, abgerufen am 22.11.2024.