zu geben. Er stellte sich, als käme er mit der Hälfte seines Gutes von Creta, der fernen Insel her, wo er die andere Hälfte seinen Söhnen zurückgelassen. Mord, an dem Räuber seiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, sich aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬ läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas Athene, fuhr ihm streichelnd über die Wange und verwan¬ delte sich plötzlich in eine schöne, schlanke Jungfrau. "Wahrhaftig," sprach sie zu ihm, "das müßte ein Aus¬ bund von Schlauheit seyn, der dich in Listen besiegte, und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbst im eige¬ nen Lande legst du die Verstellung nicht ab! Doch, reden wir nicht länger davon; bist du doch der Klügste aller Sterblichen, wie ich die Einsichtsvollste unter den Göt¬ tern. Mich hast du aber doch nicht erkannt, hast nicht geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren neben dir stand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir das geschenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir zu sagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaste erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen."
Staunend blickte Odysseus an der Göttin empor und antwortete ihr: "Wie sollte auch ein Sterblicher dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in allerlei Gestalten verkleidet ihm begegnest! Habe ich dich doch nicht mehr in deiner eigenen Gestalt gesehen, seit Troja zerstört ward, nur daß du im Phäakenlande dich mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt gezeigt. Jetzt aber beschwöre ich dich bei deinem Vater: sage mir, ist's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬ terlande bin, und tröstest du mein Herz nicht mit einer
12 *
zu geben. Er ſtellte ſich, als käme er mit der Hälfte ſeines Gutes von Creta, der fernen Inſel her, wo er die andere Hälfte ſeinen Söhnen zurückgelaſſen. Mord, an dem Räuber ſeiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, ſich aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬ läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas Athene, fuhr ihm ſtreichelnd über die Wange und verwan¬ delte ſich plötzlich in eine ſchöne, ſchlanke Jungfrau. „Wahrhaftig,“ ſprach ſie zu ihm, „das müßte ein Aus¬ bund von Schlauheit ſeyn, der dich in Liſten beſiegte, und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbſt im eige¬ nen Lande legſt du die Verſtellung nicht ab! Doch, reden wir nicht länger davon; biſt du doch der Klügſte aller Sterblichen, wie ich die Einſichtsvollſte unter den Göt¬ tern. Mich haſt du aber doch nicht erkannt, haſt nicht geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren neben dir ſtand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir das geſchenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir zu ſagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaſte erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen.“
Staunend blickte Odyſſeus an der Göttin empor und antwortete ihr: „Wie ſollte auch ein Sterblicher dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in allerlei Geſtalten verkleidet ihm begegneſt! Habe ich dich doch nicht mehr in deiner eigenen Geſtalt geſehen, ſeit Troja zerſtört ward, nur daß du im Phäakenlande dich mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt gezeigt. Jetzt aber beſchwöre ich dich bei deinem Vater: ſage mir, iſt's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬ terlande bin, und tröſteſt du mein Herz nicht mit einer
12 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0201"n="179"/>
zu geben. Er ſtellte ſich, als käme er mit der Hälfte<lb/>ſeines Gutes von Creta, der fernen Inſel her, wo er die<lb/>
andere Hälfte ſeinen Söhnen zurückgelaſſen. Mord, an<lb/>
dem Räuber ſeiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, ſich<lb/>
aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬<lb/>
läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas<lb/>
Athene, fuhr ihm ſtreichelnd über die Wange und verwan¬<lb/>
delte ſich plötzlich in eine ſchöne, ſchlanke Jungfrau.<lb/>„Wahrhaftig,“ſprach ſie zu ihm, „das müßte ein Aus¬<lb/>
bund von Schlauheit ſeyn, der dich in Liſten beſiegte,<lb/>
und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbſt im eige¬<lb/>
nen Lande legſt du die Verſtellung nicht ab! Doch, reden<lb/>
wir nicht länger davon; biſt du doch der Klügſte aller<lb/>
Sterblichen, wie ich die Einſichtsvollſte unter den Göt¬<lb/>
tern. Mich haſt du aber doch nicht erkannt, haſt nicht<lb/>
geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren<lb/>
neben dir ſtand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes<lb/>
zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir<lb/>
das geſchenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir<lb/>
zu ſagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaſte<lb/>
erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen.“</p><lb/><p>Staunend blickte Odyſſeus an der Göttin empor<lb/>
und antwortete ihr: „Wie ſollte auch ein Sterblicher<lb/>
dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in<lb/>
allerlei Geſtalten verkleidet ihm begegneſt! Habe ich dich<lb/>
doch nicht mehr in deiner eigenen Geſtalt geſehen, ſeit<lb/>
Troja zerſtört ward, nur daß du im Phäakenlande dich<lb/>
mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt<lb/>
gezeigt. Jetzt aber beſchwöre ich dich bei deinem Vater:<lb/>ſage mir, iſt's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬<lb/>
terlande bin, und tröſteſt du mein Herz nicht mit einer<lb/><fwtype="sig"place="bottom">12 *<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[179/0201]
zu geben. Er ſtellte ſich, als käme er mit der Hälfte
ſeines Gutes von Creta, der fernen Inſel her, wo er die
andere Hälfte ſeinen Söhnen zurückgelaſſen. Mord, an
dem Räuber ſeiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, ſich
aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬
läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas
Athene, fuhr ihm ſtreichelnd über die Wange und verwan¬
delte ſich plötzlich in eine ſchöne, ſchlanke Jungfrau.
„Wahrhaftig,“ ſprach ſie zu ihm, „das müßte ein Aus¬
bund von Schlauheit ſeyn, der dich in Liſten beſiegte,
und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbſt im eige¬
nen Lande legſt du die Verſtellung nicht ab! Doch, reden
wir nicht länger davon; biſt du doch der Klügſte aller
Sterblichen, wie ich die Einſichtsvollſte unter den Göt¬
tern. Mich haſt du aber doch nicht erkannt, haſt nicht
geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren
neben dir ſtand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes
zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir
das geſchenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir
zu ſagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaſte
erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen.“
Staunend blickte Odyſſeus an der Göttin empor
und antwortete ihr: „Wie ſollte auch ein Sterblicher
dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in
allerlei Geſtalten verkleidet ihm begegneſt! Habe ich dich
doch nicht mehr in deiner eigenen Geſtalt geſehen, ſeit
Troja zerſtört ward, nur daß du im Phäakenlande dich
mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt
gezeigt. Jetzt aber beſchwöre ich dich bei deinem Vater:
ſage mir, iſt's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬
terlande bin, und tröſteſt du mein Herz nicht mit einer
12 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/201>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.