Der Schlummer des Odysseus war süß, aber auch so tief wie der Tod. Das Schiff aber flog schnell und sicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengsten durch die Ebene, oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt. Es war als wüßte es, welch einen Schatz es an dem Manne trage, der in Klugheit mit den Himmlischen wetteiferte, und mehr Leiden erduldet hatte, als irgend ein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigsten Schlafe Alles vergessen, was er jemals in Schlachten und auf den Meereswellen Herbes erfahren.
Als der Morgenstern am Himmel stand und den Tag ankündigte, steuerte das Schiff in vollem Laufe schon auf die Insel Ithaka zu, und bald lief es in die sichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Forkys ge¬ widmet war. Zwei Landspitzen mit gezackten Felsen laufen hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bilden für die Schiffe einen sicheren Hafen. Im Mittelpunkte der Bucht stand ein schattiger Oelbaum, und neben demselben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer Dämmerung Meernymphen ihren Wohnsitz hatten. In derselben standen steinerne Krüge und Urnen gereiht, in welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webstühle von Stein konnte man da sehen, mit purpurnen Fäden bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden woben. Zwei nie versiegende Quellen rannen durch die Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen
Odyſſeus kommt nach Ithaka.
Der Schlummer des Odyſſeus war ſüß, aber auch ſo tief wie der Tod. Das Schiff aber flog ſchnell und ſicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengſten durch die Ebene, oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt. Es war als wüßte es, welch einen Schatz es an dem Manne trage, der in Klugheit mit den Himmliſchen wetteiferte, und mehr Leiden erduldet hatte, als irgend ein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigſten Schlafe Alles vergeſſen, was er jemals in Schlachten und auf den Meereswellen Herbes erfahren.
Als der Morgenſtern am Himmel ſtand und den Tag ankündigte, ſteuerte das Schiff in vollem Laufe ſchon auf die Inſel Ithaka zu, und bald lief es in die ſichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Forkys ge¬ widmet war. Zwei Landſpitzen mit gezackten Felſen laufen hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bilden für die Schiffe einen ſicheren Hafen. Im Mittelpunkte der Bucht ſtand ein ſchattiger Oelbaum, und neben demſelben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer Dämmerung Meernymphen ihren Wohnſitz hatten. In derſelben ſtanden ſteinerne Krüge und Urnen gereiht, in welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webſtühle von Stein konnte man da ſehen, mit purpurnen Fäden bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden woben. Zwei nie verſiegende Quellen rannen durch die Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen
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Odyſſeus kommt nach Ithaka.
Der Schlummer des Odyſſeus war ſüß, aber auch
ſo tief wie der Tod. Das Schiff aber flog ſchnell und
ſicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengſten durch
die Ebene, oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt.
Es war als wüßte es, welch einen Schatz es an dem
Manne trage, der in Klugheit mit den Himmliſchen
wetteiferte, und mehr Leiden erduldet hatte, als irgend
ein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigſten Schlafe
Alles vergeſſen, was er jemals in Schlachten und auf
den Meereswellen Herbes erfahren.
Als der Morgenſtern am Himmel ſtand und den
Tag ankündigte, ſteuerte das Schiff in vollem Laufe
ſchon auf die Inſel Ithaka zu, und bald lief es in die
ſichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Forkys ge¬
widmet war. Zwei Landſpitzen mit gezackten Felſen laufen
hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bilden
für die Schiffe einen ſicheren Hafen. Im Mittelpunkte
der Bucht ſtand ein ſchattiger Oelbaum, und neben
demſelben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer
Dämmerung Meernymphen ihren Wohnſitz hatten. In
derſelben ſtanden ſteinerne Krüge und Urnen gereiht, in
welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webſtühle von
Stein konnte man da ſehen, mit purpurnen Fäden
bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden
woben. Zwei nie verſiegende Quellen rannen durch die
Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/197>, abgerufen am 22.11.2024.
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