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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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in den Strudel gerathest!" So hatte ich die Freunde
vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir
Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla,
das gegenüber drohete, schwieg ich noch weislich; ich
fürchtete, die Genossen möchten mir vor Schrecken wieder
die Ruder fahren lassen, und sich im innern Schiffsraume
zusammendrängen.

Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergessen, das
Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬
boten, mich zum Kampfe mit diesem Ungeheuer zu rüsten;
ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüstung,
nahm zwei Speere in die Hand und stellte mich so auf's
Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen.
Aber obgleich mir die Augen vom Umherschauen schmerz¬
ten, konnte sie mein Blick doch nicht entdecken, und so
fuhr ich denn voll Todesangst in den immer enger wer¬
denden Meerschlund hinein. Diese Scylla hatte mir Circe
so geschildert: "Sie ist kein sterblicher Gegner, vielmehr
ein unsterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts
gegen sie; die einzige Rettung ist, ihr zu entfliehen.
Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem sein spitzes
Haupt in die Wolken streckenden Fels, ewig von dunkelem
Gewölk umfangen, von keinem Sonnenstrahl erleuchtet,
und ganz aus glattem Gesteine aufgethürmt. Mitten in
diesem Fels ist eine Höhle, schwarz wie die Nacht, in
dieser haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur
durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die
Fluth herüber hallt, wie das Geschrei eines neugebornen
Hundes. Dieses Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und
sechs Schlangenhälse, auf jedem derselben grinst ein scheu߬
licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die sie

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in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde
vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir
Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla,
das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich
fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder
die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume
zuſammendrängen.

Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das
Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬
boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten;
ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung,
nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's
Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen.
Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬
ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo
fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬
denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe
ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr
ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts
gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen.
Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes
Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem
Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet,
und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in
dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in
dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur
durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die
Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen
Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und
ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬
licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie

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[163/0185] in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla, das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume zuſammendrängen. Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬ boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten; ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung, nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen. Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬ ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬ denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen. Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet, und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬ licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie 11 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/185>, abgerufen am 25.11.2024.