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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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nimm, doch erst am Abende deines Lebens, dein Ruder
auf die Schulter und wandere immer fort und fort, bis
du zu Menschen kommst, die das Meer nicht kennen,
keine Schiffe haben, ihre Speise mit keinem Salze würzen.
Und wenn dir dort in der Fremde ein Wanderer be¬
gegnet, und dir sagt, du tragest des Worflers Schaufel
auf dem Rücken, dann stoße das Ruder in die Erde,
bring dem Poseidon ein Opfer und wandre wieder heim.
Endlich wird dich, während dein Reich blühet, ein fried¬
licher Greisentod auf dem Meere hinwegnehmen."

Dieß war der Inhalt seiner Weissagung. Ich dankte
dem Seher, aber ein neuer Gegenstand, der sich mir
zeigte, legte mir eine Frage auf die Zunge. "Was sehe
ich dort?" sprach ich zu ihm. "Das ist ja der Schatten
meiner Mutter! Wie stumm sitzt sie am Opferblute, ohne
ihren Sohn anzuschauen! Wie mache ich es, ehrwür¬
diger Greis, daß sie mich erkenne?" -- "Vergönne ihr
nur," erwiederte der Seher, "vom Opferblute zu trin¬
ken, so wird sie ihr Schweigen bald brechen." Da wich
ich von der Grube mit dem Schwerte zurück und die
Mutter trank. Urplötzlich erkannte sie mich, heftete ihr
thränendes Auge auf mich und sprach: "Lieber Sohn,
wie kamst du lebendig in die Todesnacht herab? Haben
dich der Ocean und die andern furchtbaren Ströme nicht
gehindert? Irrest du noch immer seit Troja's Fall um¬
her und kommst nicht von deiner Heimath Ithaka?"
Nachdem ich ihr hierüber Aufschluß gegeben hatte, be¬
fragte ich die Mutter über ihren Tod, denn ich hatte
sie lebend verlassen, als ich gen Troja zog. Auch wie
es sonst bei uns zu Hause stehe, fragte ich sie mit
pochendem Herzen. Und der Schatten erwiederte: "Deine

nimm, doch erſt am Abende deines Lebens, dein Ruder
auf die Schulter und wandere immer fort und fort, bis
du zu Menſchen kommſt, die das Meer nicht kennen,
keine Schiffe haben, ihre Speiſe mit keinem Salze würzen.
Und wenn dir dort in der Fremde ein Wanderer be¬
gegnet, und dir ſagt, du trageſt des Worflers Schaufel
auf dem Rücken, dann ſtoße das Ruder in die Erde,
bring dem Poſeidon ein Opfer und wandre wieder heim.
Endlich wird dich, während dein Reich blühet, ein fried¬
licher Greiſentod auf dem Meere hinwegnehmen.“

Dieß war der Inhalt ſeiner Weiſſagung. Ich dankte
dem Seher, aber ein neuer Gegenſtand, der ſich mir
zeigte, legte mir eine Frage auf die Zunge. „Was ſehe
ich dort?“ ſprach ich zu ihm. „Das iſt ja der Schatten
meiner Mutter! Wie ſtumm ſitzt ſie am Opferblute, ohne
ihren Sohn anzuſchauen! Wie mache ich es, ehrwür¬
diger Greis, daß ſie mich erkenne?“ — „Vergönne ihr
nur,“ erwiederte der Seher, „vom Opferblute zu trin¬
ken, ſo wird ſie ihr Schweigen bald brechen.“ Da wich
ich von der Grube mit dem Schwerte zurück und die
Mutter trank. Urplötzlich erkannte ſie mich, heftete ihr
thränendes Auge auf mich und ſprach: „Lieber Sohn,
wie kamſt du lebendig in die Todesnacht herab? Haben
dich der Ocean und die andern furchtbaren Ströme nicht
gehindert? Irreſt du noch immer ſeit Troja's Fall um¬
her und kommſt nicht von deiner Heimath Ithaka?“
Nachdem ich ihr hierüber Aufſchluß gegeben hatte, be¬
fragte ich die Mutter über ihren Tod, denn ich hatte
ſie lebend verlaſſen, als ich gen Troja zog. Auch wie
es ſonſt bei uns zu Hauſe ſtehe, fragte ich ſie mit
pochendem Herzen. Und der Schatten erwiederte: „Deine

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[155/0177] nimm, doch erſt am Abende deines Lebens, dein Ruder auf die Schulter und wandere immer fort und fort, bis du zu Menſchen kommſt, die das Meer nicht kennen, keine Schiffe haben, ihre Speiſe mit keinem Salze würzen. Und wenn dir dort in der Fremde ein Wanderer be¬ gegnet, und dir ſagt, du trageſt des Worflers Schaufel auf dem Rücken, dann ſtoße das Ruder in die Erde, bring dem Poſeidon ein Opfer und wandre wieder heim. Endlich wird dich, während dein Reich blühet, ein fried¬ licher Greiſentod auf dem Meere hinwegnehmen.“ Dieß war der Inhalt ſeiner Weiſſagung. Ich dankte dem Seher, aber ein neuer Gegenſtand, der ſich mir zeigte, legte mir eine Frage auf die Zunge. „Was ſehe ich dort?“ ſprach ich zu ihm. „Das iſt ja der Schatten meiner Mutter! Wie ſtumm ſitzt ſie am Opferblute, ohne ihren Sohn anzuſchauen! Wie mache ich es, ehrwür¬ diger Greis, daß ſie mich erkenne?“ — „Vergönne ihr nur,“ erwiederte der Seher, „vom Opferblute zu trin¬ ken, ſo wird ſie ihr Schweigen bald brechen.“ Da wich ich von der Grube mit dem Schwerte zurück und die Mutter trank. Urplötzlich erkannte ſie mich, heftete ihr thränendes Auge auf mich und ſprach: „Lieber Sohn, wie kamſt du lebendig in die Todesnacht herab? Haben dich der Ocean und die andern furchtbaren Ströme nicht gehindert? Irreſt du noch immer ſeit Troja's Fall um¬ her und kommſt nicht von deiner Heimath Ithaka?“ Nachdem ich ihr hierüber Aufſchluß gegeben hatte, be¬ fragte ich die Mutter über ihren Tod, denn ich hatte ſie lebend verlaſſen, als ich gen Troja zog. Auch wie es ſonſt bei uns zu Hauſe ſtehe, fragte ich ſie mit pochendem Herzen. Und der Schatten erwiederte: „Deine

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/177>, abgerufen am 22.11.2024.