Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

am Uferhügel mit seiner Heerde bergwärts hinan klim¬
menden Cyklopen meine Spottrede zu: "Nun, Cyklop,
du hast doch keines schlechten Mannes Begleiter in dei¬
ner Höhle gefressen! Endlich sind dir deine Frevelthaten
vergolten worden, und du hast die Strafe Jupiters und
der Götter empfunden!"

Als der Wütherich dieses hörte, wurde sein Grimm
noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus
dem Gebirge heraus, und warf ihn nach unserem Schiffe.
Auch hatte er so gut gezielt, daß er das Ende unseres
Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von
dem niederstürzenden Blocke schwoll die Fluth an und die
rückwärts wallende Brandung riß unser Schiff wieder
ans Gestade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die
Ruder anstrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬
fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬
mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen
zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten.
"Höre, Cyklop," schrie ich, "wenn dich je einmal ein
Menschenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, so
sollst du eine bessere Antwort geben, als du sie deinen
Cyklopen ertheilt hast! Sag' ihm nur: der Zerstörer
Troja's, Odysseus, hat mich geblendet, der Sohn des
Laertes, der auf der Insel Ithaka wohnt!" So rief ich.
Heulend schrie der Cyklop herüber: "Wehe mir! So
hat sich denn die alte Weissagung an mir erfüllt! Denn
einst befand sich unter uns ein Wahrsager mit Namen
Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande
der Cyklopen alt geworden ist. Dieser hat mir gewahr¬
sagt, daß ich dereinst durch Odysseus das Gesicht ver¬
lieren sollte. Da meinte ich dann immer, es sollte ein

am Uferhügel mit ſeiner Heerde bergwärts hinan klim¬
menden Cyklopen meine Spottrede zu: „Nun, Cyklop,
du haſt doch keines ſchlechten Mannes Begleiter in dei¬
ner Höhle gefreſſen! Endlich ſind dir deine Frevelthaten
vergolten worden, und du haſt die Strafe Jupiters und
der Götter empfunden!“

Als der Wütherich dieſes hörte, wurde ſein Grimm
noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus
dem Gebirge heraus, und warf ihn nach unſerem Schiffe.
Auch hatte er ſo gut gezielt, daß er das Ende unſeres
Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von
dem niederſtürzenden Blocke ſchwoll die Fluth an und die
rückwärts wallende Brandung riß unſer Schiff wieder
ans Geſtade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die
Ruder anſtrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬
fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬
mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen
zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten.
„Höre, Cyklop,“ ſchrie ich, „wenn dich je einmal ein
Menſchenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, ſo
ſollſt du eine beſſere Antwort geben, als du ſie deinen
Cyklopen ertheilt haſt! Sag' ihm nur: der Zerſtörer
Troja's, Odyſſeus, hat mich geblendet, der Sohn des
Laertes, der auf der Inſel Ithaka wohnt!“ So rief ich.
Heulend ſchrie der Cyklop herüber: „Wehe mir! So
hat ſich denn die alte Weiſſagung an mir erfüllt! Denn
einſt befand ſich unter uns ein Wahrſager mit Namen
Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande
der Cyklopen alt geworden iſt. Dieſer hat mir gewahr¬
ſagt, daß ich dereinſt durch Odyſſeus das Geſicht ver¬
lieren ſollte. Da meinte ich dann immer, es ſollte ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0157" n="135"/>
am Uferhügel mit &#x017F;einer Heerde bergwärts hinan klim¬<lb/>
menden Cyklopen meine Spottrede zu: &#x201E;Nun, Cyklop,<lb/>
du ha&#x017F;t doch keines &#x017F;chlechten Mannes Begleiter in dei¬<lb/>
ner Höhle gefre&#x017F;&#x017F;en! Endlich &#x017F;ind dir deine Frevelthaten<lb/>
vergolten worden, und du ha&#x017F;t die Strafe Jupiters und<lb/>
der Götter empfunden!&#x201C;</p><lb/>
              <p>Als der Wütherich die&#x017F;es hörte, wurde &#x017F;ein Grimm<lb/>
noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus<lb/>
dem Gebirge heraus, und warf ihn nach un&#x017F;erem Schiffe.<lb/>
Auch hatte er &#x017F;o gut gezielt, daß er das Ende un&#x017F;eres<lb/>
Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von<lb/>
dem nieder&#x017F;türzenden Blocke &#x017F;chwoll die Fluth an und die<lb/>
rückwärts wallende Brandung riß un&#x017F;er Schiff wieder<lb/>
ans Ge&#x017F;tade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die<lb/>
Ruder an&#x017F;trengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬<lb/>
fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬<lb/>
mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen<lb/>
zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten.<lb/>
&#x201E;Höre, Cyklop,&#x201C; &#x017F;chrie ich, &#x201E;wenn dich je einmal ein<lb/>
Men&#x017F;chenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;oll&#x017F;t du eine be&#x017F;&#x017F;ere Antwort geben, als du &#x017F;ie deinen<lb/>
Cyklopen ertheilt ha&#x017F;t! Sag' ihm nur: der Zer&#x017F;törer<lb/>
Troja's, Ody&#x017F;&#x017F;eus, hat mich geblendet, der Sohn des<lb/>
Laertes, der auf der In&#x017F;el Ithaka wohnt!&#x201C; So rief ich.<lb/>
Heulend &#x017F;chrie der Cyklop herüber: &#x201E;Wehe mir! So<lb/>
hat &#x017F;ich denn die alte Wei&#x017F;&#x017F;agung an mir erfüllt! Denn<lb/>
ein&#x017F;t befand &#x017F;ich unter uns ein Wahr&#x017F;ager mit Namen<lb/>
Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande<lb/>
der Cyklopen alt geworden i&#x017F;t. Die&#x017F;er hat mir gewahr¬<lb/>
&#x017F;agt, daß ich derein&#x017F;t durch Ody&#x017F;&#x017F;eus das Ge&#x017F;icht ver¬<lb/>
lieren &#x017F;ollte. Da meinte ich dann immer, es &#x017F;ollte ein<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0157] am Uferhügel mit ſeiner Heerde bergwärts hinan klim¬ menden Cyklopen meine Spottrede zu: „Nun, Cyklop, du haſt doch keines ſchlechten Mannes Begleiter in dei¬ ner Höhle gefreſſen! Endlich ſind dir deine Frevelthaten vergolten worden, und du haſt die Strafe Jupiters und der Götter empfunden!“ Als der Wütherich dieſes hörte, wurde ſein Grimm noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus dem Gebirge heraus, und warf ihn nach unſerem Schiffe. Auch hatte er ſo gut gezielt, daß er das Ende unſeres Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von dem niederſtürzenden Blocke ſchwoll die Fluth an und die rückwärts wallende Brandung riß unſer Schiff wieder ans Geſtade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die Ruder anſtrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬ fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬ mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten. „Höre, Cyklop,“ ſchrie ich, „wenn dich je einmal ein Menſchenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, ſo ſollſt du eine beſſere Antwort geben, als du ſie deinen Cyklopen ertheilt haſt! Sag' ihm nur: der Zerſtörer Troja's, Odyſſeus, hat mich geblendet, der Sohn des Laertes, der auf der Inſel Ithaka wohnt!“ So rief ich. Heulend ſchrie der Cyklop herüber: „Wehe mir! So hat ſich denn die alte Weiſſagung an mir erfüllt! Denn einſt befand ſich unter uns ein Wahrſager mit Namen Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande der Cyklopen alt geworden iſt. Dieſer hat mir gewahr¬ ſagt, daß ich dereinſt durch Odyſſeus das Geſicht ver¬ lieren ſollte. Da meinte ich dann immer, es ſollte ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/157
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/157>, abgerufen am 22.11.2024.