mein eigen Herz nicht, so schone ich weder dich noch deine Freunde! Aber sage mir jetzt, wo du das Schiff geborgen hast, auf welchem du hergekommen bist? Wo liegt es vor Anker, nah oder ferne?" So fragte der Cyklop voll Arglist, ich aber war bald mit einer schlauen Erfindung bei der Hand. "Mein Schiff, guter Mann," antwortete ich, "hat der Erderschütterer Poseidon nicht weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬ trümmert; ich allein mit diesen zwölf Gesellen bin ent¬ ronnen!" Auf diese Rede antwortete das Ungeheuer gar nicht, sondern streckte nur seine Riesenhände aus, packte zwei meiner Genossen, und schlug sie, wie junge Hunde, zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde spritzte. Dann zerhackte er sie Glied für Glied zur Abend¬ kost und fraß sich an ihnen satt, wie ein Löwe in den Bergen. Eingeweide, Fleisch, ja das Mark mitsammt den Knochen verzehrte er. Wir aber streckten die Hände zu Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.
Nachdem sich das Unthier seinen Wanst gefüllt und den Durst mit Milch gelöscht, warf er sich der Länge nach in der Höhle zu Boden, und nun besann ich mich, ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert zwischen Zwerchfell und Leber in die Seite stoßen sollte. Aber schnell bedachte ich mich eines Bessern. Denn was hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬ lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬ letzt alle des jämmerlichsten Todes sterben müssen. De߬ wegen ließen wir ihn schnarchen und erwarteten in dumpfer Bangigkeit den Morgen. Als dieser erschienen und der Cyklop aufgestanden war, zündete er wieder ein Feuer an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packte
Schwab, das klass. Altherthum. III. 9
mein eigen Herz nicht, ſo ſchone ich weder dich noch deine Freunde! Aber ſage mir jetzt, wo du das Schiff geborgen haſt, auf welchem du hergekommen biſt? Wo liegt es vor Anker, nah oder ferne?“ So fragte der Cyklop voll Argliſt, ich aber war bald mit einer ſchlauen Erfindung bei der Hand. „Mein Schiff, guter Mann,“ antwortete ich, „hat der Erderſchütterer Poſeidon nicht weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬ trümmert; ich allein mit dieſen zwölf Geſellen bin ent¬ ronnen!“ Auf dieſe Rede antwortete das Ungeheuer gar nicht, ſondern ſtreckte nur ſeine Rieſenhände aus, packte zwei meiner Genoſſen, und ſchlug ſie, wie junge Hunde, zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde ſpritzte. Dann zerhackte er ſie Glied für Glied zur Abend¬ koſt und fraß ſich an ihnen ſatt, wie ein Löwe in den Bergen. Eingeweide, Fleiſch, ja das Mark mitſammt den Knochen verzehrte er. Wir aber ſtreckten die Hände zu Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.
Nachdem ſich das Unthier ſeinen Wanſt gefüllt und den Durſt mit Milch gelöſcht, warf er ſich der Länge nach in der Höhle zu Boden, und nun beſann ich mich, ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert zwiſchen Zwerchfell und Leber in die Seite ſtoßen ſollte. Aber ſchnell bedachte ich mich eines Beſſern. Denn was hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬ lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬ letzt alle des jämmerlichſten Todes ſterben müſſen. De߬ wegen ließen wir ihn ſchnarchen und erwarteten in dumpfer Bangigkeit den Morgen. Als dieſer erſchienen und der Cyklop aufgeſtanden war, zündete er wieder ein Feuer an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packte
Schwab, das klaſſ. Altherthum. III. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0151"n="129"/>
mein eigen Herz nicht, ſo ſchone ich weder dich noch<lb/>
deine Freunde! Aber ſage mir jetzt, wo du das Schiff<lb/>
geborgen haſt, auf welchem du hergekommen biſt? Wo<lb/>
liegt es vor Anker, nah oder ferne?“ So fragte der<lb/>
Cyklop voll Argliſt, ich aber war bald mit einer ſchlauen<lb/>
Erfindung bei der Hand. „Mein Schiff, guter Mann,“<lb/>
antwortete ich, „hat der Erderſchütterer Poſeidon nicht<lb/>
weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬<lb/>
trümmert; ich allein mit dieſen zwölf Geſellen bin ent¬<lb/>
ronnen!“ Auf dieſe Rede antwortete das Ungeheuer gar<lb/>
nicht, ſondern ſtreckte nur ſeine Rieſenhände aus, packte<lb/>
zwei meiner Genoſſen, und ſchlug ſie, wie junge Hunde,<lb/>
zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde<lb/>ſpritzte. Dann zerhackte er ſie Glied für Glied zur Abend¬<lb/>
koſt und fraß ſich an ihnen ſatt, wie ein Löwe in den<lb/>
Bergen. Eingeweide, Fleiſch, ja das Mark mitſammt den<lb/>
Knochen verzehrte er. Wir aber ſtreckten die Hände zu<lb/>
Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.</p><lb/><p>Nachdem ſich das Unthier ſeinen Wanſt gefüllt und<lb/>
den Durſt mit Milch gelöſcht, warf er ſich der Länge<lb/>
nach in der Höhle zu Boden, und nun beſann ich mich,<lb/>
ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert<lb/>
zwiſchen Zwerchfell und Leber in die Seite ſtoßen ſollte.<lb/>
Aber ſchnell bedachte ich mich eines Beſſern. Denn was<lb/>
hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬<lb/>
lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬<lb/>
letzt alle des jämmerlichſten Todes ſterben müſſen. De߬<lb/>
wegen ließen wir ihn ſchnarchen und erwarteten in dumpfer<lb/>
Bangigkeit den Morgen. Als dieſer erſchienen und der<lb/>
Cyklop aufgeſtanden war, zündete er wieder ein Feuer<lb/>
an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packte<lb/><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Schwab</hi>, das klaſſ. Altherthum. <hirendition="#aq">III</hi>. 9<lb/></fw></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[129/0151]
mein eigen Herz nicht, ſo ſchone ich weder dich noch
deine Freunde! Aber ſage mir jetzt, wo du das Schiff
geborgen haſt, auf welchem du hergekommen biſt? Wo
liegt es vor Anker, nah oder ferne?“ So fragte der
Cyklop voll Argliſt, ich aber war bald mit einer ſchlauen
Erfindung bei der Hand. „Mein Schiff, guter Mann,“
antwortete ich, „hat der Erderſchütterer Poſeidon nicht
weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬
trümmert; ich allein mit dieſen zwölf Geſellen bin ent¬
ronnen!“ Auf dieſe Rede antwortete das Ungeheuer gar
nicht, ſondern ſtreckte nur ſeine Rieſenhände aus, packte
zwei meiner Genoſſen, und ſchlug ſie, wie junge Hunde,
zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde
ſpritzte. Dann zerhackte er ſie Glied für Glied zur Abend¬
koſt und fraß ſich an ihnen ſatt, wie ein Löwe in den
Bergen. Eingeweide, Fleiſch, ja das Mark mitſammt den
Knochen verzehrte er. Wir aber ſtreckten die Hände zu
Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.
Nachdem ſich das Unthier ſeinen Wanſt gefüllt und
den Durſt mit Milch gelöſcht, warf er ſich der Länge
nach in der Höhle zu Boden, und nun beſann ich mich,
ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert
zwiſchen Zwerchfell und Leber in die Seite ſtoßen ſollte.
Aber ſchnell bedachte ich mich eines Beſſern. Denn was
hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬
lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬
letzt alle des jämmerlichſten Todes ſterben müſſen. De߬
wegen ließen wir ihn ſchnarchen und erwarteten in dumpfer
Bangigkeit den Morgen. Als dieſer erſchienen und der
Cyklop aufgeſtanden war, zündete er wieder ein Feuer
an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packte
Schwab, das klaſſ. Altherthum. III. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/151>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.